Während einer der vielen Stunden meiner letzten, aus der Zeit gefallenen Museumsschicht, gleite ich langsam hinüber in das zittrige, ferne
Land der Fantasie und denke mir folgende Geschichte:
Ein junger Mann, der in der Museumsaufsicht arbeitet, kommt
zu spät zum Dienst. Sein Vorgesetzter, ein verschwitzter Gorilla mit Zuhältergestus,
beschimpft ihn wüst und befiehlt, diesmal
besser auf das Fotoverbot zu achten. Der junge Aufseher, nervös und verunsichert
vom rauen Ton seines Chefs, verspricht Besserung und arbeitet besonders motiviert an diesem Tag. Er schickt Touristen mit Rucksack in die Garderobe, er
unterbindet Fingerzeige auf die Kunst, er macht sämtliche Fotoversuche
zunichte. Er sieht alles.
Plötzlich steht eine zierliche Asiatin vor einem besonders
wertvollen, wandfüllenden Gemälde und hebt ihre Hände. Der junge Aufseher, der
seine Kontrollrunde macht, sieht die Dame von Weitem und glaubt, eine blitzende Kamera in
ihrer Hand zu erkennen. Laut brüllend stürzt er zu ihr, um das Foto zu verhindern; doch es kommt nicht mehr dazu. Die Asiatin hat das Handy fallen
lassen und liegt reglos daneben. Ihr ist vor Schreck das Herz stehen geblieben.
Jahre später ist der junge Aufseher kaum noch jung und hat
schon lange die Stadt gewechselt. Zerfressen von der Schuld am Tod einer Touristin, lebt der Mann allein und zurückgezogen, verfolgt einen austauschbaren Beruf ohne
Menschenkontakt, hat seit dem Zwischenfall nie wieder ein Museum betreten.
Ohne aktives Zutun lernt er eines Tages eine Frau kennen, die es schafft, ihn aus der
Lethargie zu reißen. Sie weiß nichts von seiner Vorgeschichte, sie interessiert
sich nicht dafür, sie liebt ihn, wie er heute ist. Sie werden schnell ein Paar. Sie sind glücklich.
Eines Tages gehen sie gemeinsam ins Kino. Sie schauen einen
Film über einen jungen Museumsaufseher, der zu spät zu seiner Schicht kommt.
Sein Vorgesetzter, ein verschwitzter Gorilla mit Zuhältergestus, beschimpft ihn
grob und befiehlt, diesmal besser auf das Fotoverbot zu achten. Der junge
Aufseher wirkt verunsichert und will seinen Job besonders gut machen, da sieht
er plötzlich eine zierliche Asiatin vor dem wertvollsten Gemälde, die dabei ist, ihre
Kamera zu zücken. Laut schreiend stürzt er zu ihr hin, um sie am Foto zu hindern; doch es kommt nicht mehr dazu. Vor Schreck hat die Frau einen Herzinfarkt erlitten und liegt reglos am Museumsboden. Jahre später ist der
junge Aufseher kaum noch jung und lebt in einer neuen Stadt, allein und
zurückgezogen, meidet Menschenkontakte und Museumsräume. Ohne
aktives Zutun lernt er eine Frau kennen, die es schafft, ihn aus der Lethargie zu reißen. Er
ist glücklich. Eines Tages gehen sie gemeinsam ins Kino, setzen sich in einen
dunklen Saal und starren gebannt auf die Leinwand.
Plötzlich geht das Licht an, Applaus hallt durch den Kinosaal, das Publikum steht auf
und alle Köpfe drehen sich zu dem ehemaligen Museumsaufseher, der in ihrer Mitte
sitzt. Und der Mann begreift, dass er der Hauptdarsteller ist, der gerade
die Premiere seines eigenen Filmes gesehen hat. Er war so sehr und so lange in seiner tragischen
Rolle versunken, dass sie im Kopf zu seiner Wirklichkeit geworden ist. Erst der Applaus hat ihn zurückgeholt, er steht auf, verbeugt sich, wird vor die Leinwand gebeten, und die Frau, die ihn glücklich gemacht hat, steht plötzlich neben ihm, sie reicht ihm einen Blumenstrauß und haucht ihm anerkennend ins Ohr, während der Beifall anhält: "Die Rolle deines Lebens ..."
Im nächsten Moment reißt mich ein
Funkspruch aus den Gedanken, und ich bin schlagartig zurückversetzt in die reale Ausstellungswelt, bin sofort wieder der
mannshohe Sicherheitshinweis im dunklen Anzug, bin die Aufsicht, die durch den Raum geht, die vielen
Gäste überblickt und dabei nicht sitzen darf, niemals sitzen darf.