Ich lese Knausgård. Genauer, ich lese seine Essays, nicht
das vorangegangene Selbstbeschäftigungsphänomen in sechs Bänden, für das ich
keine Ruhe finde. Auch die Essays sind immer einen Tick zu lang, genau jenen
Tick aber, den es braucht, um gedanklich abzuschweifen und sich noch während
der Lektüre in eigene, wilde Bewusstseinsströme zu stürzen.
Ich lese Knausgård, die Stunde ist sonnenlos, und ich frage
mich: Warum nennt ein norwegischer Schriftsteller, der bekanntermaßen Hitler gelesen hat,
seinen sechsbändigen, autobiografischen Romanzyklus Min Kamp? Ist es ein Akt der Provokation? Ist es Revolte? Trotz?
Oder geht es ihm bloß um die Aufdeckung der Banalität des Kampfbegriffes? Ich
weiß es nicht. Und, um ehrlich zu sein, ich möchte es auch nicht wissen. Wüsste
ich es, wäre die Titelwahl eindeutig und somit uninteressant, wie alles
Eindeutige. Lieber entscheide ich mich dafür, das Wissen nicht zu suchen,
obwohl es sich unschwer finden ließe, ein paar Klicks im Netz, ein Artikel, ein Interviewfetzen, es kostete mich keine fünf Minuten. Warum aber verzichte ich auf diesen ach so leichten Wissensgewinn?
Es heißt, Wissen ist Macht, doch das ist unpräzise. Wissen allein ist machtlos, erst die Wissenskontrolle erschafft Macht. Gebe ich vor, was zu wissen und was nicht zu
wissen ist, habe ich das Momentum der Geschichte in der Hand. Entscheide ich
mich aber freiwillig dafür, etwas nicht wissen zu wollen, falle ich aus dem
gewinnorientierten System der Wissenszunahme heraus – aus freien Stücken zu
sagen, ich möchte die Beweggründe einer literarischen Kampfansage nicht wissen,
weil es dem Werktitel seines Geheimnisses beraubte, das ist die eigentliche, scheinbar schwache Entscheidung, durch die ich mir einen bewussten Rest an
Rätsel erhalte. Denn Rätsel ist das
kunstvolle Pseudonym des Nichtwissens, das sich erst in seiner Auflösung
auflöst; belasse ich es im festen Zustand, hält es ewig. Es überdauert Hitler,
es überdauert Knausgård, es überdauert mich und mein gesamtes, rätselhaftes
Sein.
Es gibt Tage, nicht wenige, an denen glaube ich, umso
weniger zu begreifen, je mehr ich erfahre. Das allwissende Netz trägt seinen gastlichen
Teil bei, bewirtet mich mit hochprozentigen Wissensdestillaten, die mich
verkatert zurücklassen, während die Konturen des Rätsels nach und nach
schwinden. Es ist schade, immer alles erfahren zu können, immer zu sehen, was
in dieser oder jener Welt geschieht, was sich wer worüber warum denkt, weshalb
das Falsche falsch ist und das Richtige richtig. Es fällt mir schwer, unendlich
schwer, mich loszulösen von den Verlockungen des Wissens, mir die Ewigkeit des
Nichtwissens aufrechtzuerhalten, das Rätsel in meinem Kopf zu hegen, damit er
sich nicht auflöste.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich überhaupt schreibe,
warum ich einer Tätigkeit nachkomme, für die ich mich so beschämend
unqualifiziert fühle: Weil es mir hilft, das Nichtwissen zu bewahren. Alles,
was ich schreibe, ist zutiefst lückenhaft, voller Zweifel, Ängste und Unsicherheiten,
und ich werde schon morgen nicht mehr wissen, wie ich diesen Text heute verfassen konnte. Aber eben dieses Nichtwissen um die eigene Form und seinen möglichen
Inhalt, dieses unerfüllte Nichtwissen ist es, was es so unwiderstehlich und überdauernd macht,
und mit jedem noch so schlechten Satz wirken die Zweifel, Ängste und
Unsicherheiten weniger schlimm.