Dienstag, 21. November 2017

Die Disziplin der Engel

Winter herrscht wieder. Nicht lange ist es her, seit der letzte Schweiß des Sommers zerronnen ist, schon pfeift die Stadt von Frost und Kälte, windige Molltöne, die durch jede Ritze klingen. Es ist, als hätte der Herbst nicht stattgefunden, wie auf einem Spielbrett hat ihn der Wetterkegel übersprungen, zwei Felder vor auf graue Winterstarre.

Im Museum verschränke ich die Arme, es ist keine Abwehrhaltung, es ist Lebenserhaltung. Noch hier friere ich, und die Hände suchen in der Beuge nach Wärme, die Durchblutung verlacht mich bitter, wie jedes Jahr, während die schweren Oberteile schon die Pforte erreichen. Heute stehe ich im Touristenschloss an der Ostseite, zweiter Stock, und erspähe Jacke für Jacke, Mantel für Mantel, ein seltsam einstimmiger Widerstand gegen die Garderobe, die sogar gratis ist, und den Besuchern dennoch wie eine Strafe erscheint, die man nicht hinnehmen kann. Lieber tragen sie ihre aufgedunsenen Überkleider vor sich her, die fetten Daunen nach allen Seiten quellend, und ich darf sie aufhalten, jeden einzelnen von ihnen, weil es die Hausordnung so will, und die Jacke entweder angezogen oder abgegeben gehört. Ihr Verständnis hält sich in Grenzen.

Gegen Mittag tritt ein massiver Männerkörper in schwarzer Lederweste durch die Tür zur Galerie, die grelle Jacke in der Hand. Ich gehe auf ihn zu, blicke an dem massigen Hünen hoch und bitte ihn formell „to put he coat on“. Er nickt verstehend, doch statt die Jacke überzustreifen, zieht er plötzlich die Weste aus. Ich starre ihn verwirrt an, möchte etwas einwenden, die Hausordnung erklären, da zieht er sich die Jacke an, und ich begreife: die Weste muss darüber getragen werden. Im nächsten Moment treten drei weitere riesenhafte Kraftblöcke in den gleichen schwarzen Lederwesten in die Galerie, wieder die massigen Jacken in der Hand, ich sage wieder meine Worte auf, und wieder das klare Nicken, und sie tun es dem ersten gleich und entledigen sich der Weste, schlüpfen in die Jacke hinein und erst danach streifen sie die Westen wieder darüber. Und erst, als sie mir alle den Rücken kehren, da sehe ich den Grund für ihr Verhalten, ich sehe das berühmte Kreislogo und den feuerroten, unverkennbaren Schriftzug: Hell's Angels.

Ich blicke ihnen lange nach, beobachte, wie sich die Männerbande in dem Raum verteilt, wie sich die Anhänger des asphaltierten Freiheitsbundes am europäischen Klassizismus satt sehen, ihn konzentriert und mit ungespieltem Interesse betrachten. Doch selbst hier, selbst im Museum, zeigt sich noch ihr Stolz, einer Verbindung anzugehören, der Stolz, der in die schwarzen Lederwesten eingenäht ist, die alle vier wie eine Auszeichnung tragen, die gezeigt werden muss; es ist ihre Art zu betonen: Ich gehöre dazu, ich bin einer von uns. Ich bin ein Hell's Angel.

Es ist ein Gefühl, das mir so vollkommen fremd erscheint, das ich so schwer verstehen kann, weil ich es nie erfahren habe, diesen Stolz des Zusammenschlusses, die Zugehörigkeit zu einer Teamphilosophie, derer man sich verpflichtet und die es zu tragen gilt, über allem.

Und irgendwo, auch wenn ich es nicht recht begreife, da bewundere ich sie. Und ich kann nicht leugnen, dass es sich ein wenig gut anfühlt, dass ich es bin, der hier, heute, im Museum, diesen kantigen Hünen und Freigeistern vorschreiben darf, was sie unter der bindenden Weste tragen müssen; und sie akzeptieren es, jeder von ihnen, voller Disziplin und Verständnis.