Wozu träumen, wozu lesen? Ich habe ein schlechtes, sehr
selektives Gedächtnis, was bleibt mir hängen von zwanzig, von fünfhundert
Seiten? Wenn die Kunst dem Traum am nächsten kommt, dann muss auch ihr Gehalt,
der Effekt ihrer Aufnahme, einem dunklen Traumrest ähneln; ein paar Bilder,
einige Momente, ein Gefühl, ein Satz – nicht viel mehr bleibt mir von der
Arbeit der Nacht, und nicht viel mehr von der Lektüre des Tages. Doch einmal
geträumt, und somit gesehen, bleiben
sie in mir, bleiben sie immer.
An einem Mittwoch höre ich die Worte der Kunstleiterin, die
eine Kindergruppe durchs Museum lotst, „das ist das Schöne an der Kunst“, sagt
sie, „man kann sich das herausnehmen, was man für sich braucht.“ Ich will ihr
zunicken, für den schönen Ton, und sie ergänzen, denke, es geht noch einen
Schritt weiter: Man kann überhaupt erst dann wissen, was man für sich braucht, wenn man die Kunst dafür gesehen
hat. Ohne gesehen zu haben, was möglich ist, was möglich sein kann in einem freien
Kunstwerk, beschränkt sich das Denken auf die allgemeine Konvention; und
schafft sich damit die eigenen Grenzen, die nur der Traum anzugreifen wagt.
Oder (im schönsten Fall) die Kunst und ihre Lektüre.
Nicht viel vom Lesen bleibt in meinem Kopf, doch was ich mir
nahm, was ich für mich brauchte, hat sich traumhaft einquartiert und die eigene
Grenze erweitert, weil sie keine kannte. Ich wusste, was ich brauchte, als ich
las, was ich noch nie sah – und lernte, was möglich ist: Von Borges, dass ein Gegenstand das Universum enthalten, von Cortazar, dass der Erzähler ein Axolotl sein kann. Von Thomas Mann, dem Satzarchitekten, dass ein Mund geräumig, vom Exilrussen Gasdanow, dass ein Leben phantomhaft sein kann; von Kafka die perfekten ersten, von Miss Woolf die perfekten letzten Worte einer Geschichte; vom verrückten Charms, dass eine Geschichte
ein einziger Satz, vom einsamen Pessoa, dass ein Sonnenuntergang berührender als der Tod
sein kann; von Juan Rulfo, dass die Toten oft gesprächiger als die Lebenden sind, von Lawrence Sterne, dass schon im Mutterleib Erzähldrang herrscht; von
Beckett, dass die Sonne auf nichts Neues scheint.
Sie alle und noch viele weitere habe ich entdeckt (oder sie
mich), und das, was von ihnen hängen bleibt, was ich also brauchte, ohne es
davor zu wissen, das erst hat die Grenze der Vorstellung verschoben, wie jeder
schwach nachschimmernde Traum die Grenze dessen verschiebt, was ich mir
einbilden kann oder möchte: Grenzenlosigkeit wächst mit jeder Erfahrung, die
kein konventionelles Ziel verfolgt. Sie ergibt sich aus der Fülle an Traum- und
Vorbildern, die das Denken öffnen, ohne es zu erwarten. Bild für Bild, Satz für
Satz.