Donnerstag, 30. November 2017

Grenzenlose Vorbilder

Wozu träumen, wozu lesen? Ich habe ein schlechtes, sehr selektives Gedächtnis, was bleibt mir hängen von zwanzig, von fünfhundert Seiten? Wenn die Kunst dem Traum am nächsten kommt, dann muss auch ihr Gehalt, der Effekt ihrer Aufnahme, einem dunklen Traumrest ähneln; ein paar Bilder, einige Momente, ein Gefühl, ein Satz – nicht viel mehr bleibt mir von der Arbeit der Nacht, und nicht viel mehr von der Lektüre des Tages. Doch einmal geträumt, und somit gesehen, bleiben sie in mir, bleiben sie immer.

An einem Mittwoch höre ich die Worte der Kunstleiterin, die eine Kindergruppe durchs Museum lotst, „das ist das Schöne an der Kunst“, sagt sie, „man kann sich das herausnehmen, was man für sich braucht.“ Ich will ihr zunicken, für den schönen Ton, und sie ergänzen, denke, es geht noch einen Schritt weiter: Man kann überhaupt erst dann wissen, was man für sich braucht, wenn man die Kunst dafür gesehen hat. Ohne gesehen zu haben, was möglich ist, was möglich sein kann in einem freien Kunstwerk, beschränkt sich das Denken auf die allgemeine Konvention; und schafft sich damit die eigenen Grenzen, die nur der Traum anzugreifen wagt. Oder (im schönsten Fall) die Kunst und ihre Lektüre.

Nicht viel vom Lesen bleibt in meinem Kopf, doch was ich mir nahm, was ich für mich brauchte, hat sich traumhaft einquartiert und die eigene Grenze erweitert, weil sie keine kannte. Ich wusste, was ich brauchte, als ich las, was ich noch nie sah – und lernte, was möglich ist: Von Borges, dass ein Gegenstand das Universum enthalten, von Cortazar, dass der Erzähler ein Axolotl sein kann. Von Thomas Mann, dem Satzarchitekten, dass ein Mund geräumig, vom Exilrussen Gasdanow, dass ein Leben phantomhaft sein kann; von Kafka die perfekten ersten, von Miss Woolf die perfekten letzten Worte einer Geschichte; vom verrückten Charms, dass eine Geschichte ein einziger Satz, vom einsamen Pessoa, dass ein Sonnenuntergang berührender als der Tod sein kann; von Juan Rulfo, dass die Toten oft gesprächiger als die Lebenden sind, von Lawrence Sterne, dass schon im Mutterleib Erzähldrang herrscht; von Beckett, dass die Sonne auf nichts Neues scheint.

Sie alle und noch viele weitere habe ich entdeckt (oder sie mich), und das, was von ihnen hängen bleibt, was ich also brauchte, ohne es davor zu wissen, das erst hat die Grenze der Vorstellung verschoben, wie jeder schwach nachschimmernde Traum die Grenze dessen verschiebt, was ich mir einbilden kann oder möchte: Grenzenlosigkeit wächst mit jeder Erfahrung, die kein konventionelles Ziel verfolgt. Sie ergibt sich aus der Fülle an Traum- und Vorbildern, die das Denken öffnen, ohne es zu erwarten. Bild für Bild, Satz für Satz.

Als Borges in einem Essay schrieb, dass sich Kafka seine Vorgänger selbst geschaffen hat, da heißt das vielleicht auch, dass Kafka die skizzierten Grenzen seiner Zeit nur deshalb so radikal überschreiten konnte, weil er sah, wie Generationen vor ihm gegen genau diese Grenzen anliefen. Grenzenlose Vorstellung muss gelernt sein, muss vorgesehen sein, um für den Leser Unvorhersehbares zu schaffen. Und deshalb träumen, deshalb lesen: um die eigene Grenze, wenn auch nie ganz aufzulösen, so doch zu verschieben. Und immer weiter zu träumen, größer und weiter, von phantomhaften Schwanzlurchen und geräumigen Fruchtblasen und allem, von dem ich noch nicht weiß, Bild für Bild, Satz für Satz; absurd und unruhig.