Ich lausche. Beobachte und lausche, schärfe meine Sinne,
während ich neben der Gruppe stehe und der unendlich angenehmen, angelernt
klaren Stimme der Kunstvermittlerin folge, die den Massen Monet erklärt. Seit
einigen Wochen schon stehe ich wieder in einem neuen Objekt, dem wertvollsten
Museum der Stadt, und hier, jetzt, heute, setzt Monet die Menschen in den
Fluss, Menschen über Menschen über Menschen, die seinen fließenden Farben
folgen. Nur für ihn, nur für den extravaganten Impressionisten öffnet das Haus schon
eine Stunde früher, lässt mich eine Stunde länger mitfließen und ausfließen.
Ich will ihm böse sein, doch es geht nicht, weil ich seiner Geschichte lausche,
weil sie zu gut ist; Monet mag man eben.
Und tatsächlich, alle mögen ihn, besonders die späten
Semester. Es ist ein Mittwoch, es ist, als würden alle alten Menschen dieser
Stadt einheitlich in die Ausstellung pilgern, durch die fließenden Räume voller
Seerosen, Winterlandschaften und hängenden Gärten. Als hätten sich alle Altersheime
gleichzeitig entleert, ein gemeinsamer Ausgang, vielleicht einer der letzten,
jedes Husten, jeder ihrer Schritte macht mir Sorge. Und immer wieder läutet
ihnen das Telefon, das smarte, das jeder von ihnen besitzt, aber niemand
bedienen kann, und immer wieder ist ihr Klingelton ein Albtraum, und nie finden
sie das Gerät vor dem fünften Läuten, und nie, nie wissen sie sofort, wie man
es abstellt, leiser macht, ausschaltet – warum schaltet ein Pensionist sein
Telefon im Museum nicht aus? Und wer ist das nur, der ihn ständig anruft? Die verschollene Enkelin? Der Hausarzt?
Mit verstörender Verlässlichkeit läuten die Telefone der
alten Massen, nicht nur heute, seit Wochen schon, während mir die Beine schwer
werden, die Sohlen wieder Feuer fangen, und nicht einmal der samtweiche,
monetblaue Teppichboden etwas hilft. Doch ich lausche. Ich lausche weiter und sehe
den so unheimlich beliebten Franzosen in neuem Licht. Und ich erfahre, dass
Schönheit nicht absolut ist, dass selbst Monet nicht immer schon schön war und
sein erster Erfolg erst spät kam, sehr spät, erst mit Fünfzig. Seine erste Einzelausstellung
soll die Leute gar so verstört haben, dass ein Besucher auf die Straße lief und
einen Passanten in den Arm biss. „Warum hast du einen Menschen in den Arm
gebissen?“, hätte man ihn gefragt. „Wegen Monet“, hätte er geantwortet.
Hundert Jahre später gilt dieselbe Kunst, die bis zum
Menschenbiss verstörte, als eine der ästhetischsten, zartesten Farbanordnungen
der Kunstgeschichte. Hundert Ölwerke hängen heute in der Ausstellung, jedes
einzelne in Millionenhöhe versichert. Und er, der seine eigenen Farben mit dem
Alter nicht mehr recht sehen konnte, er verbindet die einstige Ablehnung mit
der heutigen Anerkennung, die Vergangenheit mit der Gegenwart, das Fließende mit dem Konservierten, die Alten mit
den Jungen. Denn da, plötzlich, inmitten all der gebrechlichen Kunstveteranen,
schlüpft ein Kind aus den hustenden Massen, und ich sehe, beobachte, wie es an der
Kunstvermittlerin vorbeischlendert, wie ein verlorenes Wesen in der falschen
Epoche, ein Kind mit Interesse, ein Kind mit Stil, es trägt einen schwarzen
Pullover, und darauf in weißen Lettern die klare Botschaft: NOW IS THE NEW
LATER.
Das ist sie, denke ich, die Wahrheit dieses Mittwochs, das
ist die Zustimmung, die ich geben kann, will, werde. Jetzt muss man in diese
Ausstellung gehen, jetzt muss man schreiben, jetzt muss man Monet mögen – und
wenn nicht für seine Seerosen und Spaghettigärten, dann doch zumindest für die
Tatsache, dass er bis Fünfzig geschmäht wurde und seine Zeitgenossen so aufwühlte,
dass sie sich ineinander verbissen. Monet verbindet.