Ein Grund, warum ich meinen schlechten Job so mag, sind
meine Kollegen. Ich arbeite neben wundersamen, unwahrscheinlichen Menschen mit diversesten Lebensläufen und
Geburtsflaggen, ich diene weniger den vereinzelten Museen, als den Vereinten
Nationen: Österreich, Ungarn, Italien, Deutschland, Schweiz, Schweden, Rumänien,
Serbien, Kosovo, Türkei, Tunesien, Syrien, Iran, Ägypten, Kanada – ich kenne
keinen Beruf, in dem mehr Internationalität herrscht als in der
Museumsaufsicht.
Ein paar meiner Kollegen sind geflüchtet, viele studiert,
niemand verbohrt. Die meisten haben Träume, oder zumindest Ziele, andere hatten
sie, leben jetzt das Scheitern, ich bewundere sie alle. Viele sind jung, viele
sind Teilzeit, manche über Fünfzig, alle unterbezahlt. Es ist die eine, die große
Klammer, die uns alle eint, die Ironie der Gerechtigkeit in der Geringschätzung:
egal, wie alt, egal, welches Geschlecht, egal, woher man kommt, egal, wie lange
man die Stelle hält – wir alle verdienen gleich wenig. Nirgendwo herrscht mehr
Gleichberechtigung als in einer Berufsposition, die nichts verspricht.
Hier, in den fensterlosen Ausstellungsräumen, hier gibt es
keine geschlechtsabhängigen Gehaltsscheren, gibt es weder Über- noch
Unterqualifikation, weder Bevorzugung noch Ausschließung. Jede und jeder ist herzlich
willkommen, für einen Hungerlohn Position zu beziehen und sich die Kniescheiben
schleichend zu zermürben; solange man nur annähernd die Sprache
beherrscht. Es ist wirklich die einzige Voraussetzung für den Dienstanzug: Sprechen Sie Deutsch. Und jedes Mal, bei
jedem Dienst, freue ich mich über die unikalen Akzente im Funkverkehr, die
durchklingenden Herkünfte, die in mein Ohr rauschen, und ich kann wieder nicht
fassen, wie man sich diese abgrundtief alogische deutsche Sprache innerhalb
kürzester Zeit aneignen kann, wie man Deutsch überhaupt als Fremdsprache lernen
kann oder möchte, und zu welch einmaligen Versprechern die Unbedarftheit fähig ist
und wie überwältigend poetisch die winzigen grammatikalischen Fehlpässe meiner
ausländischen Kollegen durch mein Gehör klingen und mir den Tag retten. Ein
Haufen Dichter, und keiner von ihnen weiß es.
Es ist schon wieder ein Mittwoch, ich stehe wieder zwischen Monets
Millionenimpressionen und unterdrücke meine konstante Müdigkeit, als plötzlich
der Kollege aus Raum 1+2 in meine Richtung hetzt. Er wirkt ausgelöst, in
großer Eile, verlässt seine Position, um mich einzuweihen, ich rechne mit dem
Schlimmsten. Ein Notfall, ein Bildschaden, eine Herzattacke. Der Kollege bleibt
abrupt stehen, nickt mir zu und sagt: „Du bist doch Österreicher, oder? Was ist
der Unterschied zwischen rechnen, berechnen und verrechnen?“ – Ich bin eine
Sekunde verwirrt, vielleicht zwei, dann erst begreife ich und versuche, es ihm zu
erklären; es ist nicht leicht, es ist wirklich nie leicht, die deutsche Sprache
einfach zu erklären, sie simpel und
kurz zu halten. Ich suche Beispiele und Anschaulichkeiten, stottere, gestikuliere,
der Kollege scheint dennoch zufrieden, geht zurück auf Position. Und erst Stunden später erkenne ich, dass die
Antwort auf seine Frage im Grunde kinderleicht und völlig klar ist: rechnen
heißt mit Zahlen spielen, berechnen heißt mit Resultaten spielen, und
verrechnen heißt scheitern, also Leben spielen.