Heute stehen die Zeichen auf Sturm. Es ist der 28. November 2018
und wieder trete ich in ihre Filiale am Rand der Flaniermeile, presse mich durch eine unzählbare Masse an Menschen, als wäre ich immer noch im Museum, gefangen im monetschen Ausnahmezustand. Und irgendwo, da stimmt es auch, für mich ist es ein Museum: Jedes
Buch ein Exponat, jede Bindung ein Kunststück, jeder U4-Text ein
Kuratorenwitz. Es ist ein Museum ohne Aufsicht, eine Ausstellung zum
Anfassen, bunt, global und wechselhaft, hunderte, tausende Künstler
und Werke, in die man sich hineinlesen muss. In dieses Museum verschlägt es
mich, tagein, tagaus, hier stöbere, suche, finde ich die Bücher, die
ich später in einem Laden kaufe, von dem niemand das Logo kennt. Weil er keines
hat, nie eines haben wird.
In der Kettenfiliale dagegen ist alles Logo. Auf Regalen, am
Sackerl, auf Lesezeichen, Übersichtsplänen, überall prangt die kobaltblaue
Schrift, der Name, die Marke.
Sie ist es, die die Massen abholt, die Räume und Konten füllt. Menschen mögen
Marken, immer schon. Ein frittengelber Doppelbogen, eine zweischwänzige Kaffeenixe,
eine grüne Büchermuse – die Marke schenkt Vertrauen und Zuversicht. Immer schon ist sie bekannt, nie
überrascht sie; und was nicht überrascht, kann nicht enttäuschen. Sie ist das
Wissen: Was ich hier bekomme, das ist vielleicht lieblos, ist vielleicht
überteuert, ist vielleicht nicht besonders – aber ich bekomme es. Die Marke ist
der Schutzpatron der Beständigkeit. Sie ist der Tod der Überraschung, das Ende
des Empfindens. Sie ist Wohlstand. Ein Privileg.
Die Filiale auf der Flaniermeile hat drei Stockwerke. Im
ersten Stock ist eine Toilette, auf der Toilettentür ein Schild, auf dem Schild
eine Information. Sie lautet: „Aus Gründen der Sicherheit und Hygiene bitte
[sic] wir sie [sic] keine Ware in den Toilettenbereich mitzunehmen. Vielen
Dank für Ihr Verständnis!“ – Nein, ich erfinde, ich träume das nicht, ich will schwören, dieses Schild existiert, und es
ist wohl tatsächlich die beste, die klarste Erklärung für ein diffuses Gefühl, das sich immer nur schüchtern und unvollständig erklären lässt: Das Gefühl meiner Heimat. Die Marke hat mir die Überraschung genommen,
dieses Schild nimmt mir die Mündigkeit. Ich lebe in einem reichen, demokratischen Staat, in dem das
Bedürfnis herrscht, seine Bürger schriftlich darauf hinweisen zu
müssen, keine ungekauften Bücher zum Scheißen auf eine Buchhandlungstoilette
mitzunehmen. Aus Gründen der Sicherheit und Hygiene.
Heute ist der 28. November 2018, nur zwei Länder weiter
tritt gerade das Kriegsrecht in Kraft, und in meiner nächsten Umgebung herrschen akute Sicherheitsbedenken, dass der Volksverstand nicht ohne Hinweis fähig ist, seine
Notdurft in der Halböffentlichkeit ohne ungekaufte Neuware zu verrichten.
Soviel Freiheit, soviel Frieden und Wohlstand zu besitzen, um einen solchen Hinweis überhaupt formulieren zu können (der, im schlimmsten Fall, seine Berechtigung hat) – das, würde ich
sagen, ist die Kurzfassung dessen, was meine Heimat ausmacht
oder kleinmacht, je nachdem. Ein Privileg.