Zeichnen ist
Handsprache, habe ich irgendwo einmal gelesen, vor ein paar Jahren, ein
Zitat, anonym, das mir nicht aus dem Kopf ging, mich seitdem begleitet, wie
alle Eindrücke, die mich nicht verlassen, weil sie mir zu persönlich, also frei
gewählt sind. Es heißt (zurecht) Sprache schafft Realität, doch es hat mich
immer schon leise irritiert, wenn sich Verfechter dieser Anschauung allein und
einzig auf die Schrift fixieren (und dabei noch nicht mal auf das
Schriftbild). Was ist mit Handsprache, Bildsprache? Hat ein
Gemälde, eine Fotographie im Kern nicht mehr Realitätssinn als ein Wort? Ein
Bild ist da, ist immer präsent, immer schon offen, ein Blick genügt, um seinen Inhalt zu
lesen, seine Sprache ist universal, und selbst, wenn ich es nicht verstehe,
so kann ich es immer noch sehen. Ein
Bild begnügt sich damit, betrachtet zu werden.
In all meinen Museumsrunden im zweiten Stock des
Touristenschlosses (ostseitig) bleibe ich immer wieder hängen, an dem einen, unscheinbaren Bild,
einem Porträt, das aus allen sturen Meisterschaften des Klassizismus, aus allen
Biedermeiertableaus tapfer herausragt, das mich jedes Mal berührt, als sähe ich es
zum ersten Mal. Es zeigt das Profil eines unbekannten Mädchens (jeden Mädchens), das ein Buch liest. Wir sehen nicht, welches Buch, es ist nicht
wichtig, es könnte Schund oder Schiller, ein Schauermärchen sein, könnte alles sein, entscheidend
ist: Das Mädchen hat sich dieses Buch frei gewählt; es hat sich entschieden, dieses Buch zu lesen. Jetzt. Es ist die Antithese
zu Amerlings passiven, weichgezeichneten Madonnen, die nichtstuend schwelgen, beiseite blicken,
auf bessere Epochen warten. Das Mädchen aber liest. Vielleicht wartet es auch,
doch es liest, in der Zwischenzeit, es hält, es studiert, es liest ein Buch. Es
kann lesen, es will lesen, es liest. Unbeirrt von all den bedrängenden
Touristenscharen, den ausbrechenden Ellbogen, verbotenen Blitzen, lauten
Gesprächen; es liest. In aller Ruhe, an jedem Tag, bei jedem Wetter, bis sich das Öl auf der
Leinwand nach tausenden von Jahren zersetzt haben wird: es liest.
Der Wiener Maler Franz Eybl hat dieses Mädchen 1850 porträtiert,
einhundertfünfunddreißig Jahre bevor Margaret Atwoods Report der Magd den Frauen das Lesen verbietet. Und wann immer ich an dem unbekannten Mädchen
vorbeigehe, wann immer ich ihre Unversehrtheit prüfe, da berührt sie mich,
berührt mich in dieser monumentalen, konzentrierten Schlichtheit, hebt die räumliche, respektvolle Distanz auf, die ich
zu ihr halte, weil es mein Job ist. Ich betrachte das Mädchen beim Lesen und ich muss glauben, weil ich es sehe: Nirgendwo ist der Mensch schöner als beim
verträumten Vertieftsein in ein Buch. (Ich sehe, dass ein Mädchen ein Buch liest und ich sehe,
dass es schön ist; es ist schön, weil es liest.)