Wie bei jeder Arbeit, bei jedem Job, in dem es darum geht, Gäste (also Menschen mit Geld) zu bedienen, beschützen und zu umgeben, ist auch der
Aufsichtsdienst eine Sache von diskreter Zurückhaltung. Bei allen himmlischen
Hochzeiten und privaten Bankentreffen, hier, im Fürstenschloss, bin ich stets unsichtbar, ein Paradox: Ich soll alles sehen, ohne gesehen zu werden; beaufsichtigen, ohne aufzufallen; nur reden, wenn ich gefragt werde, nur
abgehen, wenn ich ersetzt werde, nur eingreifen, wenn es zu spät ist. Fünf
Stunden, acht Stunden, zehn Stunden: angelerntes Zurückhalten, diskretes
Herumstehen. Ich bin gut darin.
Doch meine Zurückhaltung endet nicht im Dienstbereich.
Selbst davor, danach, dazwischen, im Pausenraum, immer hält es mich, immer
spüre ich sie durch – meine angelernten Manieren, die mein Handeln und Nichthandeln lenken.
Ich arbeite in Objekten, die variieren, mit Menschen, die ständig wechseln, und immer wieder kommen und gehen, kommen und stehen neue Aufsichten neben mir,
doch dann gibt es auch noch die, die man immer wieder trifft, auf die man sich
immer freut, wenn man sie wiedererkennt, wenn man weiß, heute steht man wieder
zusammen durch; mit diesen Konstanten wird jeder Dienst wie ein Klassentreffen,
eine Rückkehr zur Gemeinsamkeit, bis Dienstende. Und obwohl mir viele dieser
Gleichgesinnten so vertraut wirken, obwohl ich sie seit Monaten und Jahren
immer wieder sehe, mit ihnen rede und quatsche wie mit Kameraden, weiß ich von einigen
noch immer nicht den Namen. Ich weiß ihn nicht, weil ich nie danach gefragt
habe, oder ihn sofort vergessen habe, und dann den Moment verpasst habe, den rechten Moment, um ihn nachzufragen.
Jetzt ist es zu spät – umso mehr Zeit vergeht, umso unangenehmer wird es, mit
Kollegen, mit Kolleginnen zu reden, deren Namen ich nicht kenne. Doch schlimmer wäre, jemanden nach zwei Jahren zu fragen, wie er eigentlich heißt. Nein, es ist
unmöglich.
Was ist das Gegenteil von Zurückhaltung? Es ist
Unverschämtheit, eine Todsünde. Thoreau – Waldmensch, Vordenker, Solitär – hat sie schon vor 180 Jahren erkannt, die städtische Sünde
gegenüber der falschen, diskreten Tugend, zwei angelernte Werte, die es nur
unter Menschen gibt, die wohlerzogen wurden (als Beispiel gibt er Goethe an, den manierierten Jahrhundertgelehrten, der so bedachtvoll wohlerzogen wurde, viel „zu wohlerzogen, um
durch und durch erzogen zu sein.“), in der freien Natur aber, da existiert
nichts dergleichen – im Wald gibt es weder Zurückhaltung noch Unverschämtheit.
Und wirklich, im Grunde ist meine, ist jede Zurückhaltung
nur ein Produkt von all den Manieren, die mir ein Leben lang aufgedrängt,
angelernt, eingeprägt wurden. Manieren, die das Leben künstlich regeln und ihm
die pure, ehrliche Wildheit nehmen, wie sie auch der Literatur die Wildheit nehmen.
Thoreaus unzensierte Waldrufe klingen bis ins Heute: „Vieles in unserer Literatur hat die vorzüglichsten
Manieren, aber keinen Charakter.“
Wenn es aber, nach dem Credo dieses eigentümlich auswärtigen,
naturverliebten Amerikaners, in Literatur wie im Leben (einzig) darum geht, zur
Wahrheit vorzudringen, so stehen mir die Manieren immer nur im Wege; meine
Manieren sind es, die mich in falscher, künstlicher Zurückhaltung stehen
lassen. Sie hindern mich daran, frei und ohne schlechtes Gewissen einen Namen im falschen Moment zu erfragen. Meine
Manieren sind es, die mich daran hindern, einfachstes Wissen zu erlangen. Sie
halten mich, wenn auch nicht dumm, dann doch unwissend, und machen aus einer
normalen Frage eine unerklärliche Unverschämtheit, deren mögliche Konsequenz
mich magisch zurückhält. Tatsächlich bin ich lieber unwissend als unverschämt.
Und allein für diese Erkenntnis schäme ich mich. Dafür, dass
ich immer noch nicht weiß, wie einige meiner besten Kollegen und Kolleginnen
heißen. Dafür, dass ich sie wie alte Freunde anlächle und dabei in Gedanken
nach einer Möglichkeit suche, ihnen den Namen diskret zu entlocken, ohne danach fragen zu
müssen, weil ich ihn schon längst wissen müsste. Und es auch würde, hätte ich
keine wohlerzogenen Manieren.