Montag, 29. März 2021

Momente und Alltag

Manche kleinen und unscheinbaren Erinnerungen wirken umso wertvoller, je unwahrscheinlicher ihre Erfahrung in der Gegenwart wäre. Ich erinnere mich an eine Zeit, als es noch regelmäßig Konzerte gab, mit Publikum, in geschlossenen Räumen. Ich erinnere mich an einen Dienst, vor knapp vier Jahren, eine meiner ersten Aufsichten im Glasbau für moderne Kunst. Ich stand in der Haupthalle und überschaute den Aufbau für ein Konzert, das an diesem Abend stattfinden sollte. Eine deutsche Punkband, die ihre besten Tage (Monate, Jahre) bereits hinter sich hatte, wollte es noch einmal wissen, schickte sich in Gatsby-Manier an, die Vergangenheit zu wiederholen und die eigene Bandgeschichte zu befeiern; denn genau hier, in dieser Stadt, in diesem Bau, geigten sie vor genau 25 Jahren auf. 

Damals waren sie jung, wild, hungrig, Kult. Heute sind sie sechs alte Herrschaften, denen ich die Tür aufhalten darf. Denn meine Position ist an der Fluchttür, rechts neben der Bühne, dort, wo es in den Garten und zu den Parkplätzen geht, wo der bescheidene, unauffällige Bandwagen steht. Ich öffne ihnen die Tür, die nur von innen aufgeht, damit die alten Nichtkonformen ihre schweren Instrumente hereinschleppen können, und betrachte diese Künstler, die ihre Berufung nicht verfehlt haben. Vor 25 Jahren müssen sie Idole gewesen sein, denke ich, haben die Wut, den Frust einer jungen Generation in die Mikrofone gerotzt, den Plattenbau zum Beben gebracht, Zeilen für die Ewigkeit verfasst. Helden waren sie früher, doch das Alter macht sie mir zu etwas anderem: zu echten Menschen.

Sie werden mir in dem Moment zu Menschen, als der Gitarrist kurz vor Konzertbeginn an mich herantritt und leise, fast schüchtern um einen kleinen Gefallen bittet: Wenn ich sehe, dass er vor der Zugabe auf mich zukommt, soll ich sofort die Tür aufhalten, damit er in den Garten und schnell wieder zurück kann; ein ganzes Konzert halte seine Blase heute einfach nicht mehr aus. Ich nicke automatisch, lächle die Verblüffung weg, und der Gitarrist zwinkert mir verschwörerisch zu, das bleibe unter uns, wäre unsere kleine Abmachung. In dem Moment sind wir nicht Aufsicht und Gitarre; wir sind Komplizen, zwei Verbündete.

Der Nachmittag vergeht, es wird Abend, draußen dunkel und das Konzert beginnt. Ich stehe an der Fluchttür, sehe aus der Distanz hinüber zur Bühne, die von vier gealterten Menschen betreten wird, Menschen, die sich mit dem ersten Akkord sofort wieder zurückverwandeln, in die lauten, bunten Punks ihrer Jugend, und für zwei Stunden, da sind sie wieder ihre eigenen Kinder, die Helden von früher, der Sänger ein hüpfender Protest aus Farbenfetzen, alle Regenbogentöne trägt er am Leib, lässt eine Schicht nach der anderen fallen, bis er mit freiem Oberkörper gegen die Zeit anschreit, und dann, tatsächlich, kommt der Moment, mitten hinein in das Abebben des Abschlusssongs, ihrer größten Hymne: Während der Bass noch brummelt, das Schlagzeug trommelt, die Menge jubelt, legt der Gitarrist das Instrument ab, dreht sich in meine Richtung und rennt abrupt von der Bühne, in unfassbarem Tempo rennt dieses kleine Männlein auf mich zu, ich halte die Tür auf und es verschwindet im Garten hinter dem Museum; keine Minute später kommt es zurückgerannt, wieder halte ich die Tür auf und schon steht der Gitarrist wieder am Instrument und die Zugabe strotzt vor altersloser, endloser Energie.

Später, als das Publikum schon lange weg ist und der Abbau schon begonnen hat, kommt er noch einmal zu mir, zu seinem Komplizen, und bedankt sich, ehrlich zufrieden, das hätte wirklich ganz toll geklappt. Bis heute habe ich diese Bilder, seine Worte nicht vergessen; der Moment, in dem er auf mich zurennt, diese irre Geschwindigkeit, die geheime Abmachung, die wundervolle Offenheit, die aufrichtige Schwäche.

Damals war es eine Anekdote, ein ziemlich guter Dienst. Heute ist es einer der schönsten und menschlichsten Konzertmomente, an die ich mich erinnere – und mit jedem veranstaltungsfreien Pandemietag scheint er mir klarer und wertvoller.