Mittwoch, 10. März 2021

Panierte Schrecken

Ich flaniere über einen Jahrmarkt aus warmen Farben, allein und gedankenlos, treibe durch den Trubel um mich herum, unter rotgelben Lichtern, ohne zu wissen, wie ich hierher gekommen bin (es stimmt schon, was DiCaprio in Inception sagt, man weiß wirklich nie, wie man im Traum irgendwo hinkommt). 

Obwohl ich mich nicht erinnere, etwas konsumiert zu haben, erwache ich am nächsten Morgen verkatert im Haus meiner Kindheit; ich renne umgehend von meinem alten Zimmer ins Bad und starre schockiert auf das Bild, das mich dort erwartet: Die Kloschüssel, das Waschbecken, sie sind verstopft und überfüllt mit Unmengen an panierten Hühnerteilen. Zwei Berge aus Backhendln ragen aus den rosakalten Keramikschlünden, dicht an dicht, quellen hervor wie panierte Geschwüre, haufenweise Gasthausabfälle, die mein Badezimmer überwuchern. Doch es ist nicht dieses widerwärtige Szenario, dass mich in Angst, Panik, Schrecken versetzt, es ist die Lücke, die mich wirklich entsetzt, diese schreckliche Lücke: Ich spüre unendliche Angst, weil ich nicht mehr weiß, wie und woher die unzähligen Hühnerstücke in das Bad kommen – und ob ich sie womöglich selbst geholt habe, vom überfüllten, unklaren Jahrmarkt.

Das wahre Grauen, der tiefste Schrecken, sie kommen (in Traum wie Literatur) allzu oft aus der Unschärfe, der eigenen Unwissenheit; der unruhigen Angst vor mir selbst und meinen fluiden Erinnerungen. Warum weiß ich nicht, was zwischen Jahrmarkt und Morgengrauen passiert ist? Weshalb kann ich nicht sagen, wie die Paniergeschwüre in mein Haus gelangten? Und vor allem: Wäre ich wirklich dazu fähig, könnte ich selbst mein eigenes Kindheitsbad mit Backhendlbergen vermüllen? Weil ich es nicht widerlegen kann, klopft das Herz. Weil ich es nicht glauben will, hält die Panik an. Nicht im Bild, im Gedanken dazu sitzt der panierte Schrecken, sitzt, bleibt, lähmt mich, bis endlich das Handy läutet.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, gibt es keinen Jahrmarkt und keine überfüllten Orte. Und halb verstört, halb erleichtert wird mir bewusst: Ich habe seit Pandemiebeginn nichts Paniertes mehr gegessen.