Dienstag, 16. März 2021

Super Mario, neu erzählt

Zwei hoffnungsfrohe Brüder verlassen ihre sonnige, kaputte Heimat, um in einem fernen Land ihren Traum von Freiheit auszuleben. Sie gründen ihren eigenen Betrieb als Meisterklempner, der eine trägt Rot, der andere Grün, die Farben ihrer Heimat, und mit weißen Handschuhen und dunklen Schnurrbärten wollen sie im großen Stil das schnelle Geld machen, das Klempnereigeschäft auf eine neue Ebene heben. Doch die Geschäfte laufen schlecht.

Eines Tages erhalten sie einen Anruf, unverhofft, von hoher Adresse. Der Ältere hebt ab, er soll sich um ein verstopftes Kellerrohr in einem Schloss kümmern. Ohne seinen kleinen Bruder einzuweihen, nimmt er den Auftrag an; geblendet vom Geld, wittert er seine große Chance, er will sich allein beweisen und alleine abräumen, hat nur noch die vielen, glänzenden Münzen vor Augen.

Er schlüpft in seine rote Montur und die blaue Latzhose und begibt sich zum entlegenen Anwesen. Doch in den verworrenen Heizkellern verzweifelt er am schier unendlichen System an Rohren, bis er von fern eine Musik vernimmt, die ihn verzaubert; er lässt die Arbeit liegen und folgt der beschwingten, fremden Melodie durch die Schlossgänge, hinauf zu dem Festsaal, aus dem sie ertönt. Er schielt durch den Türspalt und traut seinen Augen nicht: Der gesamte Saal ist mit Rosen geschmückt, dutzende Gäste tanzen in bunten, fantastischen Kostümen, sind verkleidet als Amphibien, Pilze, Pflanzen und Baumwerk, und zwischen ihnen, da erkennt er eine blonde Erscheinung im bodenlangen Märchenkleid, eine Krone auf dem hellen Haupt, und sieht nichts mehr außer ihr. Der Klempner weiß nicht, dass sie die Frau des Schlossherrn ist, es wäre ihm auch egal, denn sein Herz, seine Lenden führen ihn bereits, und er vergisst das Rohrproblem, alles Geld der Welt, er will nur noch sie.

In seiner roten Montur, die rote Kappe ins Gesicht gezogen, mischt er sich unter die Ballgäste, nähert sich ohne zu zögern der falschen Prinzessin; ein Lächeln, ein paar Worte, und sofort verfällt sie seinem Akzent, dem südländischen Charme, zieht ihn sofort mit sich in die Séparées – er weiß nicht, dass sie seit Wochen und Monaten auf diese Chance gewartet hat, auf ein schnelles Abenteuer, einen Auswärtigen, um sich endlich aus dem tristen Alltag zu befreien, der Abhängigkeit ihres Gatten zu entkommen; er weiß es nicht und er wird es nie erfahren, denn der Schlossherr überrascht die beiden in der Dienstkammer – außer sich vor Zorn sperrt er seine Frau in das Turmzimmer und schert den Klempner zum Teufel.

Noch Jahre später kann der Mann mit dem Schnurrbart diese Begegnung nicht vergessen. Von seinem kleinen Bruder hat er sich längst entfernt, den Beruf schon lange verloren, doch immer noch trägt er die rote Montur von damals, und immer noch hofft er, sie eines Tages wiederzusehen, die Eine, die Einzige, seine Prinzessin, die wie Pfirsich roch. In Träumen sucht er sie, sucht ihr bodenlanges Märchenkostüm, ihren Duft, ihren Zauber, die Musik, die ihn damals gelockt hat und die er nie wieder vernahm. Er läuft einem falschen Ideal hinterher, doch er erreicht es nicht, findet nie ans Ziel. Er verliert den Verstand um sie, ist längst irre, und noch in seiner Zelle, ganz in Weiß, wird er auf und nieder hüpfen und nach der Prinzessin rufen und ihr schwören, sie zu befreien, sie endlich aus ihrem Schloss zu befreien.