Stärke galt als eine der sieben Tugenden im frühen Christentum, jene überzeugte Fortitudo, die der alte Bruegel im Kupferstich verewigte, und die in 1500 Jahren noch nicht sonderlich überzeugt hat. Heute,
da lebt die Proklamation der Fortitudo in den sozialen Netzwerken weiter, welche
die Stärke als gelebte Vollendung utopischer
Schönheitsideale feiern und die zahllosen Selbstbilder ihrer blattschmalen A4-Taillen und
kraftnormierten Sechserpackungen als ikonenhafte Wertetafeln an die
Glaubensgemeinschaft aussenden. Das Web ist die Religion, deren Glaube zwingt, sich
in der Netzgemeinde besonders stark präsentieren zu müssen; der positive
Kommentar ist die ersehnte Heilsbringung, der den Worten Christi gleicht. Damit lebt die Generation Selfie den christlichen Angstkanon des Spätmittelalters
nahtlos und bereitwillig weiter, sie preist die scheinheiligen Tugenden im digitalen Rudel, während ihre selbst auferlegten Todsünden den bedingungslosen Gehorsam
gegenüber der Tugend weiter und immer weiter festigen.
Wenn die Todsünden dabei die kategorischen Messstäbe
menschlicher Schwäche darstellen, dann habe ich die schlimmste aller Todsünden
begangen; nämlich, zur Schwäche zu stehen.
Stärke interessiert mich nicht. Was ist Stärke auch anderes
als ein geschmackloses Bindemittel zum Zwecke der Verhärtung? Mir liegt nichts
daran, hart sein zu wollen, um der Härte des Lebens zu entsprechen, zu dem ich
keine Beziehung habe. Das Leben schuldet mir nichts und ich schulde nichts in
retour. Härte erstrebe ich nicht, Hartnäckigkeit verstehe ich nicht, Hartschale
steht mir nicht. Ich meide, was mich stärken könnte, stattdessen fühle ich mich
tragisch angezogen von meiner eigenen Schwäche, die ich in jedem meiner Sätze
erfasse und fortführe, in der einzigen Konsequenz, mich ihr niemals zu
entziehen.
Schwäche ist, was mich durch die Tage trägt. Ich bewundere
jedes kleinste Blatt, das als allererstes vom zitternden Zweig abfällt und auf
der kalten Erde landet, bevor ihm alle anderen, stärkeren Blätter in den unausweichlichen Tod nachfolgen.
Der Pioniertod des kleinsten Blattes, er ist vielleicht der wahrhaftigste, poesievollste Sieg
der Schwäche, den ich mir vorstellen kann. Es schenkt mir den Glauben, dass der
gesamte Baum bis zur Wurzel nur an diesem einen kleinsten Blatt hing, welches die Last des verhärteten
Stammes auf sich lud und daran selbstlos zu Grunde ging.
Ich bedaure das Starke, das eisern standhält. Ich begrüße das Schwache, das ungeschickt im Wind tanzt. Alles, was schutzlos zittert und
flieht, was vor Bruch und Schaden nie gefeit ist, was beweglich, fragil,
kurzfristig, ungewürdigt, übersehen existiert, ist mir der Grund, auf dem mein
Leben fußt. Mein Dasein ist auf Sand gebaut, meine Grundfeste erschüttern
sich bei Sturm und Regen – gleichzeitig durchspülen die Unwetter meinen schwachen Alltag in sturer Regelmäßigkeit, sie erfrischen und säubern mich. Warum sollte ich
eine Stärke anstreben, die mich davor bewahrte, mich selbst zu reinigen?
Ich lobe mir die Schwäche, die mich zur schonungslosen
Selbstbetrachtung zwingt und mir jeden Makel aufzeigt, den die Tugend
retuschieren möchte, weil die Glaubensgemeinschaft den Makel nur als Sünde
kennt. Ich lobe mir die Sünde des Makels, deren Präsenz mich in den Wahnsinn
treibt, vom entnervenden Haut- bis zum Talentpickel, jene Makel, die mich aufwühlen, ablenken, antreiben und
auszeichnen. Denn was wäre ich für ein Mensch ohne meine Makel? Wie könnte ich meine Gefühle ergründen, wenn mich der Makel nicht dazu herausforderte?
Ich habe eine Schwäche für die eigene Schwäche. Das ist,
neben allen anderen, meine größte und schwerste Sünde. Und so wie das kleinste
Blatt jederzeit Angst vor dem Tod haben muss, so habe ich große, stürmische
Angst vor der Einsamkeit und Verstoßenheit des bewussten Sünders. Und ich
empfange meine Angst noch mit offenen Armen und ich tanze allein und vogelfrei in
ihrem stürmischen, haltlosen Auge. Denn ich bin schwach.