Montag, 15. August 2016

Lob der Schwäche

Stärke galt als eine der sieben Tugenden im frühen Christentum, jene überzeugte Fortitudo, die der alte Bruegel im Kupferstich verewigte, und die in 1500 Jahren noch nicht sonderlich überzeugt hat. Heute, da lebt die Proklamation der Fortitudo in den sozialen Netzwerken weiter, welche die Stärke als gelebte Vollendung utopischer Schönheitsideale feiern und die zahllosen Selbstbilder ihrer blattschmalen A4-Taillen und kraftnormierten Sechserpackungen als ikonenhafte Wertetafeln an die Glaubensgemeinschaft aussenden. Das Web ist die Religion, deren Glaube zwingt, sich in der Netzgemeinde besonders stark präsentieren zu müssen; der positive Kommentar ist die ersehnte Heilsbringung, der den Worten Christi gleicht. Damit lebt die Generation Selfie den christlichen Angstkanon des Spätmittelalters nahtlos und bereitwillig weiter, sie preist die scheinheiligen Tugenden im digitalen Rudel, während ihre selbst auferlegten Todsünden den bedingungslosen Gehorsam gegenüber der Tugend weiter und immer weiter festigen.

Wenn die Todsünden dabei die kategorischen Messstäbe menschlicher Schwäche darstellen, dann habe ich die schlimmste aller Todsünden begangen; nämlich, zur Schwäche zu stehen.

Stärke interessiert mich nicht. Was ist Stärke auch anderes als ein geschmackloses Bindemittel zum Zwecke der Verhärtung? Mir liegt nichts daran, hart sein zu wollen, um der Härte des Lebens zu entsprechen, zu dem ich keine Beziehung habe. Das Leben schuldet mir nichts und ich schulde nichts in retour. Härte erstrebe ich nicht, Hartnäckigkeit verstehe ich nicht, Hartschale steht mir nicht. Ich meide, was mich stärken könnte, stattdessen fühle ich mich tragisch angezogen von meiner eigenen Schwäche, die ich in jedem meiner Sätze erfasse und fortführe, in der einzigen Konsequenz, mich ihr niemals zu entziehen.

Schwäche ist, was mich durch die Tage trägt. Ich bewundere jedes kleinste Blatt, das als allererstes vom zitternden Zweig abfällt und auf der kalten Erde landet, bevor ihm alle anderen, stärkeren Blätter in den unausweichlichen Tod nachfolgen. Der Pioniertod des kleinsten Blattes, er ist vielleicht der wahrhaftigste, poesievollste Sieg der Schwäche, den ich mir vorstellen kann. Es schenkt mir den Glauben, dass der gesamte Baum bis zur Wurzel nur an diesem einen kleinsten Blatt hing, welches die Last des verhärteten Stammes auf sich lud und daran selbstlos zu Grunde ging.

Ich bedaure das Starke, das eisern standhält. Ich begrüße das Schwache, das ungeschickt im Wind tanzt. Alles, was schutzlos zittert und flieht, was vor Bruch und Schaden nie gefeit ist, was beweglich, fragil, kurzfristig, ungewürdigt, übersehen existiert, ist mir der Grund, auf dem mein Leben fußt. Mein Dasein ist auf Sand gebaut, meine Grundfeste erschüttern sich bei Sturm und Regen – gleichzeitig durchspülen die Unwetter meinen schwachen Alltag in sturer Regelmäßigkeit, sie erfrischen und säubern mich. Warum sollte ich eine Stärke anstreben, die mich davor bewahrte, mich selbst zu reinigen?

Ich lobe mir die Schwäche, die mich zur schonungslosen Selbstbetrachtung zwingt und mir jeden Makel aufzeigt, den die Tugend retuschieren möchte, weil die Glaubensgemeinschaft den Makel nur als Sünde kennt. Ich lobe mir die Sünde des Makels, deren Präsenz mich in den Wahnsinn treibt, vom entnervenden Haut- bis zum Talentpickel, jene Makel, die mich aufwühlen, ablenken, antreiben und auszeichnen. Denn was wäre ich für ein Mensch ohne meine Makel? Wie könnte ich meine Gefühle ergründen, wenn mich der Makel nicht dazu herausforderte?

Ich habe eine Schwäche für die eigene Schwäche. Das ist, neben allen anderen, meine größte und schwerste Sünde. Und so wie das kleinste Blatt jederzeit Angst vor dem Tod haben muss, so habe ich große, stürmische Angst vor der Einsamkeit und Verstoßenheit des bewussten Sünders. Und ich empfange meine Angst noch mit offenen Armen und ich tanze allein und vogelfrei in ihrem stürmischen, haltlosen Auge. Denn ich bin schwach.