Freitag, 19. August 2016

Zutiefst versichert

Seitdem ich wieder einen Job habe, mischt sich endlich etwas Struktur und Pflicht unter meinen Alltag. Ich sage mir, ich muss froh sein, einen Job zu haben – auch wenn die Arbeit meilenweit davon entfernt ist, ein Beruf zu sein, so nimmt sie mir doch die Möglichkeit, einen Großteil meiner Zeit ohne Bezahlung zu verschwenden.

Ich arbeite als Teilzeitwachorgan, um den Leuten die Illusion von Sicherheit zu vermitteln, an die ich selbst nicht glauben kann. Ich habe mich für, oder besser: nicht gegen die Stelle entschieden, weil ich der monatelangen Suche nach ähnlich schlecht entlohnten Alternativen müde war und weil mir diese Arbeit ein wenig Zeit verschafft, Aufschub, um mich nicht weiter mit dem idealen Anschreiben der Existenzbewerbung herumzukasteien. Und weil ich mit der Stelle voll versichert bin. Und versichert sein, so wurde mir gesagt, ist erst einmal das wichtigste im Berufsleben.

Ohne Versicherung muss ich jederzeit in Angst leben. Mit Versicherung darf ich jederzeit in Angst leben. Ich zahle für ein Leben im Konjunktiv, um mich abzusichern vor den Folgen einer imaginierten Tragödie, eines Schicksals- oder Ausschlages, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht eintreten wird. Doch die Präsenz meiner Versicherung zwingt mich zu Vor-Sorgen, in denen ich mich mit der Möglichkeitsform des brutal Unwahrscheinlichen auseinandersetze. Ich muss den Konjunktiv ernst nehmen, muss mir das Was-wäre-wenn-Szenario des Albtraums vor Augen halten, um die Notwendigkeit der Versicherung zu rechtfertigen. Versicherungen unterstützten mich in meinem Denken an das Eintreffen von Geschehnissen, die nicht eintreffen dürfen; sie legitimieren den Albtraum. Und das ist erst einmal das wichtigste im Berufsleben.

Seitdem ich über eine sichere Dienststelle verfüge, bei der ich voll versichert bin, fühle ich mich erstmals als vollwertiger, erwachsener Gesellschaftspart wahrgenommen. Zumindest, solange ich meinem erwachsenen Umfeld verschweige, dass ich nebenher gewisse literarische Ambitionen verfolge und die Arbeit des Wachorgans mir lediglich als inspirativer Ausgleich zur Niederschrift meiner beschränkten Gedanken dient. Sobald der vage Traum des Autors jedoch verbal ausgebreitet wird, bin ich sofort wieder Kind, sofort wieder das naive, weltfremde, schöngeistige Dingelchen, das am Tisch der Erwachsenen nichts verloren hat. Ambitionen sind gefährlich, weil sie von der Versicherung nicht abgedeckt werden. Sie lassen sich weder kategorisieren, noch abwägen, und sind deshalb nicht ernst zu nehmen, was sie vom konkret bemessenen Versicherungsinhalt unterscheidet; Ich werde belächelt, wenn ich mich auf die Terrassen ruhmreicher Kunst träume. Ich werde bekräftigt, wenn ich mich auf einen deformierenden Unfall einstelle.

Es ist dieses Bewusstsein der erwachsenen Welt, das mich so sehr befremdet: Wer Träume hat, ist ein Träumer. Wer Albträume hat, ist Realist.