Samstag, 21. Januar 2017

Die Alten

Was liegt mir daran, jung zu sein? Ich habe meine Neugier, meine Konstitution, aber was weiß ich schon? Ja, möglich, Wissen ist nicht alles, ja, Montaigne hielt schon fest, wo der Verstand fehlte, sei alles Wissen umsonst; allein, um den Verstand zu schärfen, braucht es Jahr um Jahr um Jahr, es braucht Zeit, oder besser – Erfahrung. Etwas, das die Jugend nicht haben darf, weil sie sonst nichts mehr zu suchen brauchte. Jungsein heißt, nur nach vorne schauen zu können. Den Jungen gehört die Zukunft, natürlich, doch den Alten gehört die Vergangenheit. Sie haben das selbst erfahrene Wissen der Vergangenheit intus, haben es mit Hirn und Seele verschlungen, wie jener geladene Greis, der mir jüngst beim Festmahl im Fürstenpalais erklärte, er sei schon einmal hier gewesen; anno 1944, auf jener pompösen Hochzeit des Adels, auf der es abschließend Eis gab, jenes verheißungsvolle Desserteis, das ihm verwehrt bleiben musste, weil die Hochzeitsrunde sich just in dem Moment erhob, als ihm der kalte Nachtisch serviert werden sollte, und der Junge von damals nur mit seiner enttäuschten, eiskalten Erinnerung zurückblieb, die erst jetzt, in der Rückschau eines Lebens zu jenem bedeutsamen Detail wachsen konnte, das alle Erinnerungen und Erfahrungen einer gelebten Epoche in sich trägt – noch Jahrzehntelang vor meiner Geburt.

Nur die Alten können das Desserteis einer vergangenen Epoche lebendig machen, weil nur sie es hautnah erfahren durften. Wissen ist nicht alles, doch alles Wissen ist umsonst, wo das Detail fehlt. Ich erlebte immer wieder, mal im Dienst, mal im Warten, wie sich die unerhörten Alten neben mich stellten und mir ganz selbstverständlich ein Kapitel ihrer Lebensgeschichte erzählten, zufällig aufgeschlagen auf einer scheinbar willkürlichen Seite, und immer, ja immer, war das Kapitel mit unglaublichen, lebendigen Details durchsetzt, die niemals jemand erfinden konnte. Details, die im Rausch der Jugend kaum fassbar sind, die erst mit der Zeit zu dem werden, was sie sind – Blätter, die den Baum tragen. Unerhörte Erzählungen, in denen sich das gesamte Wissen und die Erfahrung eines Lebens widerspiegelt.

Warum aber bleiben die detaillierten Alten so gerne unerhört? Warum wird ihrer Stimme kein Gewicht verliehen, warum werden sie wie sture Arbeitsverweigerer behandelt, die am regen Gesellschaftsbau nicht willkommen sind? Weil ihre faltenreichen Gesichtsfurchen keine Belastbarkeit erkennen lassen; weil der junge Blick auf die Alten keine Zukunft mehr sieht; weil ihre Körper abgenutzt sind und schwach und ihre Schwäche nichts zu sagen hat.

Ich bin nicht überzeugt davon. Ich finde keinen Gefallen an der strikten Klassentrennung zwischen zukunftsreicher Jugend und verblichenem Lebensabend, an der Überhöhung des Kommenden gegenüber dem Gewesenen. Die Zukunft ist nichts anderes als uneingelöste Vergangenheit, die Jugend nichts weiter als unwissendes Altern.

Ich denke wieder an das uneingelöste Desserteis von 1944 und wie unmessbar viel es dem greisen Geschichtenerzähler bedeutet haben muss. Ich denke: Junge Menschen haben etwas zu sagen, alte Menschen haben etwas zu erzählen.