Was liegt mir daran, jung zu sein? Ich habe meine Neugier,
meine Konstitution, aber was weiß ich schon? Ja, möglich, Wissen ist nicht
alles, ja, Montaigne hielt schon fest, wo der Verstand fehlte, sei alles Wissen
umsonst; allein, um den Verstand zu schärfen, braucht es Jahr um Jahr um Jahr, es
braucht Zeit, oder besser – Erfahrung. Etwas, das die Jugend nicht haben darf,
weil sie sonst nichts mehr zu suchen brauchte. Jungsein heißt, nur nach vorne schauen zu können. Den Jungen gehört die Zukunft, natürlich, doch den Alten gehört die
Vergangenheit. Sie haben das selbst erfahrene Wissen der Vergangenheit intus, haben
es mit Hirn und Seele verschlungen, wie jener geladene Greis,
der mir jüngst beim Festmahl im Fürstenpalais erklärte, er sei schon einmal hier gewesen;
anno 1944, auf jener pompösen Hochzeit des Adels, auf der es abschließend Eis gab, jenes verheißungsvolle Desserteis, das ihm verwehrt bleiben musste, weil die Hochzeitsrunde sich just
in dem Moment erhob, als ihm der kalte Nachtisch serviert werden sollte, und
der Junge von damals nur mit seiner enttäuschten, eiskalten Erinnerung zurückblieb, die
erst jetzt, in der Rückschau eines Lebens zu jenem bedeutsamen Detail wachsen konnte,
das alle Erinnerungen und Erfahrungen einer gelebten Epoche in sich trägt – noch Jahrzehntelang
vor meiner Geburt.
Nur die Alten können das Desserteis einer vergangenen Epoche
lebendig machen, weil nur sie es hautnah erfahren durften. Wissen ist nicht
alles, doch alles Wissen ist umsonst, wo das Detail fehlt. Ich erlebte immer
wieder, mal im Dienst, mal im Warten, wie sich die unerhörten Alten neben mich
stellten und mir ganz selbstverständlich ein Kapitel ihrer Lebensgeschichte erzählten, zufällig
aufgeschlagen auf einer scheinbar willkürlichen Seite, und immer, ja immer, war
das Kapitel mit unglaublichen, lebendigen Details durchsetzt, die niemals jemand erfinden
konnte. Details, die im Rausch der Jugend kaum fassbar sind, die erst mit der Zeit
zu dem werden, was sie sind – Blätter, die den Baum tragen. Unerhörte
Erzählungen, in denen sich das gesamte Wissen und die Erfahrung eines Lebens
widerspiegelt.
Warum aber bleiben die detaillierten Alten so gerne
unerhört? Warum wird ihrer Stimme kein Gewicht verliehen, warum werden sie wie sture
Arbeitsverweigerer behandelt, die am regen Gesellschaftsbau nicht willkommen sind?
Weil ihre faltenreichen Gesichtsfurchen keine Belastbarkeit erkennen lassen; weil der junge Blick
auf die Alten keine Zukunft mehr sieht; weil ihre Körper abgenutzt sind und schwach
und ihre Schwäche nichts zu sagen hat.
Ich denke wieder an das uneingelöste Desserteis von 1944 und wie unmessbar viel es dem greisen Geschichtenerzähler bedeutet haben muss. Ich denke: Junge Menschen haben etwas zu sagen, alte Menschen haben etwas zu erzählen.