Dienstag, 3. Januar 2017

Ist das Biedermeier?

Nachdem die fabelhaften Figuren, Landschaften und Skizzen eines Franz von Stuck endlich wieder aus den Museumsräumen entwichen sind, erstrahlen die Ausstellungswände in neuen, gehaltvollen Farben. Auf feuerroten, minzgrünen und sanddornfarbenen Hintergründen breitet sich die kuratierte Titelfrage aus, ob diese unzähligen Porträts und Panoramen denn wirklich Biedermeierkunst wären. Ob die frühen Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht doch etwas mehr hervorgebracht haben, als schwülstig schwere Leinwandmotive in naturalistischer Vollendung. Sie haben.

Natürlich, da gibt es die ganz großen Dramen, etwa bei den Italienern: das blutige Resultat einer Vendetta am Wegesrand, die stilvoll trauernde Witwe am Grab des Geliebten. Da ist Amerlings Zartheit, die ein Taubenmädchen zur Madonna erhebt. Da ist Danhausers Erzählkunst, die verkehrte Rollenbilder und Genderfragen in einer elitären Schachpartie versteckt. Daneben die Erhabenheit zentraleuropäischer Bergmassive, der Hafen von Venedig, Meeresküsten, Sonnenauf- und -untergänge, und immer wieder Wald- und Wiesenquerschnitte der verschiedensten Malerschulen. Doch gehört der Fokus der Werkschau dennoch einem einzigen Talent, einem, dessen sonnendurchflutete Gemälde in ihrer fantastischen Präzision selbst unter Meistern unerreicht blieben. 

Wenn die Biedermeierkunst einen Star brauchte, dann fand sie ihn mit Ferdinand Georg Waldmüller. Sie fand ihn mit seinen zahllosen, fröhlich pfeifenden Kinderarbeitern, die barfüßig bei Winterskälte Reisig sammeln und dabei vergnügt lächeln, stets munter, motiviert und nie allein. In sämtlichen Räumen hängen Waldmüllers regungslose Heimatfilme, deren Licht für heilige Konturen und deren Inhalt für verhüllte Realitäten sorgen. Die stumme Kritik des Künstlers am unmenschlich brutalen Bauernalltag, sie bleibt allzu unsichtbar hinter den lachenden Gesichtern und fetischartigen, blitzeblanken Fußsohlen der immerglücklichen Kindergestalten seiner perfektionierten Glanzbilder.

Bis auf eines. Ein einziges Gemälde ist es, das sich von den ästhetischen Kitschfesseln befreit, das die Ausstellung im Alleingang über seine Zeit erhebt, das mehr ist, als der kleinbürgerliche Biedermeierbegriff suggeriert; im vorletzten Raum der Galerie, da hängt es, fast unscheinbar, zwischen den mächtigen, einschüchternden Farbkompositionen ringsum, ein leises, ein sanftes, ein unfassbares Bild von unermüdlicher Schönheit. Die Erschöpfte Kraft einer Mutter, 1854 niedergepinselt, schlafend liegt sie am Boden eines nächtlich-düsteren Kinderzimmers, sich selbst wie dahingeopfert für den wohligen Schlaf des Nachwuchses im Bett daneben, für das Kindchen, auf dessen Stirn die einzige Lichtquelle von der Kommode aus leuchtet – hier scheint sie durch, die Dokumentation seiner Zeit, in der sich Mütter bis zum Umkippen verausgabten und auf den Bodendielen rasteten, weil die Kraft sich noch vor der Bettkante erschöpfte; hier pinselt Waldmüller endlich ohne rotbackige, mäzendiktierte Heiterkeit die verfluchte Härte des Lebens in all seinen unendlich feinen Schattierungen, komponiert Licht und Schatten in überirdischer Perfektion, fängt jedes Detail, jede Abstufung, jedes Staubpartikel ein, das Halbdunkel des Zimmers, die noch offene Tür in den finsteren Gang, das wenige Kerzenlicht, die Anstrengung des Tages, die unheimliche Todesahnung, die unerbittliche Mutterliebe, die perfekte Verkürzung des liegenden Frauenkörpers, die nuanciert erleuchtete Kindermine im Bettchen; einfach alles.

An einem nächsten Nachmittag im Museum beobachte ich eine besonders redefreudige Besucherin mittleren Alters, sie schreitet in Begleitung zweier Herren durch die Ausstellung und vergibt hier und da ein schnelles Kunsturteil. Im Vorbeigehen blickt sie auf das Gemälde der erschöpften Mutter, macht eine kleine Handbewegung hinüber und bemerkt laut, ohne stehen zu bleiben: „Puh, ist das finster! – Aber gut, hat er nicht viel malen brauchen.“