Samstag, 7. Januar 2017

Popeye, neu erzählt

Ein alter Seemann, der das Meer längst hinter sich gelassen hat, verbringt seine späten Tage in schummrigen Hafenvierteln und hält sich mit schlecht bezahlten Boxkämpfen über Wasser. Freunde oder Ziele kennt er nicht, soziale Verbindlichkeiten meidet er. Nur ein einziger Mensch existiert in seinem Leben – eine junge, zarte, wunderschöne Frau; doch ihre Beziehung krankt unter seinen vielen Kämpfen, seinem zwanghaften Drang, ständig auszuteilen, sich wieder und wieder in männlichen Wettstreit zu stürzen und für ein paar Münzen und ein bisschen Stolz falsche Stärke zu beweisen. Die vielen Prügel, jeder Ringkampf, tausend Schläge haben ihn über die Jahre gezeichnet: das rechte Auge tief verquollen, das Sprachzentrum ist angeschlagen. Doch der Seemann kämpft weiter.

Er kämpft halbblind und ohne Fokus und er steckt ein, lange und viel. Doch er will, er kann diese Kämpfe nicht aufgeben, er braucht das Geld, aber noch viel mehr braucht er den Wettstreit, das Stärkemessen, das ihm längst zur Sucht geworden ist; bald greift er zu härteren Mitteln, um noch mithalten zu können, er putscht seinen Körper mit billigen Steroiden, die er in Spinatkonserven tarnt, um sie zuhause vor der Frau zu verstecken. Es ist der Trugschluss des Süchtigen; seine Wut, die Aggression, seine rohe Gewalt, nichts davon lässt sich verstecken. 

Hilflos steht sie ihm gegenüber, muss zusehen, wie er um sich schlägt, wie er sich unverwundbar fühlt, während sein Körper weiter verfällt. Sie könnte ihn verlassen, einfach gehen, doch sie bleibt; sie bettelt, sie ruft, sie weint – es ändert nichts. Zu stark fühlt sich der Seemann im Rausch, zu sehr braucht er das Gift aus der Konserve. Die Steroide benebeln seine Sinne, wieder und wieder schwappen sie über ihn, wie die Flut, die ihn zurück am Sand lässt. 

Erst nach vielen Jahren, als er sich die Droge nicht mehr leisten kann und die letzte, leere und zerdrückte Konserve von sich wirft, da blickt der alte Seemann noch einmal auf sein verwirktes Leben zurück. Und er erkennt unter Tränen, dass er immer dann am schwächsten war, wenn er sich stark gefühlt hat. Noch einmal blickt er durch die verquollenen, schmalen Augenschlitze, blickt hoch zu der Frau, die ihm bis zuletzt beisteht, die nicht von seiner Seite weicht und ihm noch jetzt die blutleere Hand hält, trotz allem, und er wispert ihr mit schwacher Stimme zu: „Ich wünschte, ich wollte niemals stark sein.“