Montag, 5. Juni 2017

Alles erreicht

Diese Nacht erscheint mir ein Buch; mein Buch. Ein kanariengelber Schutzumschlag, darauf mein Name, am unteren Eck das Logo eines renommierten Verlages. Doch ich weiß nichts davon – es wurde veröffentlicht, ohne mich zu informieren, rein zufällig stoße ich im Internet darauf, starre auf die Produktvorschau und wundere mich. Ich gehe in die Buchhandlung, mein Name ist schon da; und wieder diese Ungläubigkeit, diese Verwirrung. Sollte ich mich nicht einfach freuen? Sollte ich mich nicht erleichtert fühlen, frei, entspannt? Sollte ich nicht am Ziel sein?

„In Träumen habe ich alles erreicht“, schreibt Fernando Pessoa, dieses sonderbare Dichterphantom aus Lissabon, das die Einsamkeit seiner vielen Alter Egos mit ideologiebefreiter Tagträumerei belohnte. Und warum sollte der Triumph im Träumen weniger wert sein, als der Triumph im Leben? Es ist pure Konvention, dass dem Realen mehr Gewicht verliehen wird als dem Traum. Verschiebe ich allein die Gewichtung, habe ich tatsächlich schon alles und mehr erreicht.


Doch, seltsam, ich weiß nicht, worum es in meinem erträumten Buch geht. Nicht einmal einen Titel kann ich klar erkennen, ich sehe nur die einzelnen Letter meines Namens auf dem grellen Einband, nichts weiter. Nun, endlich, ist das erste Buch erschienen, veröffentlicht und vermarktet, und ich habe keinen Schimmer, was darin steht; ich habe alles erreicht, ohne etwas beizutragen, ohne zu wissen, wie der Sieg erfolgte und was er bedeutet. Es ist, als hätte sich im Zieleinlauf plötzlich der Staub aufgewirbelt, der alle Spuren des Weges verwischte, als träte im Ziel eine automatische Amnesie ein, eine akute Vergessenheit über alle Anläufe, Notizen, Rückfälle und Gedanken. Im Traum habe ich alles publiziert, doch jetzt, wo sich der Traum im Traum erfüllt hat, da scheint der kanariengelbe Schutzumschlag traurig fremd, da wirkt es gar, als interessierte sich das abgeschlossene Werk überhaupt nicht mehr für seinen phantomhaften Schöpfer. Und – im Grunde – da tut es das auch nicht.