Samstag, 24. Juni 2017

Die Herkulesschule

Sie hängt an der Decke im ersten Stock, dort, über dem großen Saal im Palais des Fürsten. Gegründet wurde sie vor dreihundert Jahren von Andrea Pozzo, dem italienischen Maler und Perspektivgenie, in einer Zeit, in der Künstler verkauft und weitergereicht wurden wie heute die Fußballspieler. In dem, was er tat, war Pozzo der Beste, also zitierte ihn der Fürst hierher, in jene Stadt, in der ich heute lebe, und bedrängte ihn freundlichst, sich der Deckengestaltung im Palais anzunehmen. Der Fürst wollte nicht weniger als ein monumentales Werk, ein Fresko, das mehr als tausend Worte erzählte, eine Kunstlandschaft auf sechshundert Quadratmetern, an der sich nie jemand satt sehen könnte. Er wollte Meisterschaft. Und Pozzo lieferte.

Woche für Woche blicke ich hinauf zu ihr und kann nicht begreifen, wie jemand imstande war, seine Gehirnwindungen zur Vorstellung einer illusorischen Malerei zu verwenden, die Verkürzungen jenseits jedes Verstandes ausführt und im Bild eine falsche Kuppel entstehen lässt, wo doch in Wahrheit ein nahezu flacher Deckenmörtel über mir ruht, eine sanfte Wölbung von nur wenigen Metern. Quadratura nennt sich diese absurd brillante Technik, das habe ich in einer der zahlreichen Kunstführungen erfahren, Führungen, die ich wie ein Babysitter befolgte und hier und da eine Tür aufhalten durfte, und dazwischen immer wieder der Blick zur künstlichen Kuppel, die ich nicht begreife.

Dort oben, zwischen künstlichen Säulen und Emporen, da pinselte Pozzo Leben und Tod des Herkules nach, von der Wiege bis zum barfüßigen Aufstieg in den Olymp, mitsamt den klassischen zwölf Aufgaben, die im Uhrzeigersinn den mythischen Halbgott illustrieren, der Kraft und Klugheit so vorbildlich verband. Und tatsächlich erzählen mir die Episoden in diesem göttlichen Fresko mehr, als ich in jedem gut verkauften Ratgeberschmöker, Wochenendseminar oder Selbstanleitungsvideo im Netz erlernen könnte: Ich blicke zehn Meter in die Höhe und sehe dort, inmitten von Engeln, Bestien und Göttern, ein Neugeborenes im Korb, das zwei erwürgte Schlangen in Händchen hält. Das ist sie, denke ich, das ist große Erzählkunst – wenn ein nacktes Baby direkt nach der Geburt zwei Schlangen erwürgt, die es töten sollten, weiß ich mit einem einzigen Bild, dass es sich hierbei um kein gewöhnliches Kind handeln wird. Ein Baby, das zwei Schlangen würgt – kann es eine höhere Form der Charakterzeichnung geben?

In der von Pozzo gegründeten, dreihundert Jahre alten Privatanstalt des Herkules ist mir dieses Bild die vielleicht einfachste und damit genialste Charakterlehre; und mit jeder arbeitsarmen Stunde im Saal und jedem Blick hinauf wird mir umso klarer, wie viel ich noch zu lernen habe – und wie relevant die richtige Schule ist.