Er wird auch scherzhaft Goldfisch genannt, frei nach der Mär vom sekundenkurzen Fischgedächtnis,
das sich im engen Wasserglas mit jeder Schwimmrunde erneuert; und
damit immer etwas zu entdecken hat, immer wie neu in der Glaskugel ankommend, immer das Wasser betrachtend, als sähe er es zum ersten Mal.
Bei ihm aber, dem Dreisekundenmenschen, ist es keine entschuldigende Erfindung, ist es nicht behauptet oder gespielt. Er kennt gar kein Spiel, kennt kein „als“
oder „ob“, weil er nichts kennt, was die Dreisekundengrenze überschreitet. Er
weiß nichts von Druck oder Enttäuschung, hat weder Hohn, noch Hass in sich,
weil er sich nichts davon merken kann. Jedes abzielende, aggressive Gefühl muss
durch Erfahrung und Schule angelernt werden, doch dafür hat er keine Zeit, denn
niemand, nicht einmal der Genius, lernt in drei Sekunden zu hassen. Er aber,
der Goldfisch, besitzt nichts Hässliches, besitzt gar keine Gefühle,
außer die natürlichen, instinktiven, denn sie allein sind es, die kein
Gedächtnis verlangen; sie setzen einfach ein. Wird er müde, schläft er ein,
knurrt der Magen, sucht er nach Nahrung.
Er lebt im ständigen Werden, sein Alltag ist permanente
Neuerung, sein Staunen ein Dauerzustand. Für drei Sekunden ist er Mensch, nicht
länger, denn danach hat er sich selbst vergessen, und ohne Erinnerung existiert
der Mensch nicht, ohne Erinnerung ist er nur ein Menschentier, ein Männchen
oder Weibchen oder nichts von beidem, ein Exemplar seiner Spezies, nicht mehr. Im Vergessen, da trifft dies auf ihn zu, da reduziert er sich auf den namenlosen Zweibeiner, doch
dazwischen, in jenen drei Sekunden, bevor sein Gedächtnis zurück auf Anfang
stellt, da sieht er so klar, so konturiert, so allumfassend naiv, wie ein
Neugeborenes, das mit schärfsten Sinnen und vollem Bewusstsein zur Welt kommt.