Freitag, 8. Dezember 2017

Der Dreisekundenmensch

Er wird auch scherzhaft Der Goldfisch genannt, frei nach der Mär vom sekundenkurzen Fischgedächtnis, das sich im engen Wasserglas mit jeder Schwimmrunde erneuert; und damit immer etwas zu entdecken hat, immer wie neu in der Glaskugel ankommend, immer das Wasser betrachtend, als sähe er es zum ersten Mal.

Bei ihm aber ist es keine entschuldigende Erfindung, ist es nicht behauptet oder gespielt. Er kennt gar kein Spiel, kennt kein „als“ oder „ob“, weil er nichts kennt, was die Dreisekundengrenze überschreitet. Er weiß nichts von Druck oder Enttäuschung, hat weder Hohn, noch Hass in sich, weil er sich nichts davon merken kann. Jedes abzielende, aggressive Gefühl muss durch Erfahrung und Schule angelernt werden, doch dafür hat er keine Zeit, denn niemand, nicht einmal der Genius, lernt in drei Sekunden zu hassen. Er aber, der Goldfisch, besitzt nichts Hässliches, besitzt gar keine Gefühle, außer die natürlichen, instinktiven, denn sie allein sind es, die kein Gedächtnis verlangen; sie setzen einfach ein. Wird er müde, schläft er ein, knurrt der Magen, sucht er nach Nahrung.

Er lebt im ständigen Werden, sein Alltag ist permanente Neuerung, sein Staunen ein Dauerzustand. Für drei Sekunden ist er Mensch, nicht länger, denn danach hat er sich selbst vergessen, und ohne Erinnerung existiert der Mensch nicht, ohne Erinnerung ist er nur ein Menschentier, ein Männchen oder Weibchen, ein Exemplar seiner Spezies, nicht mehr. Im Vergessen, da trifft dies auf ihn zu, da reduziert er sich auf den namenlosen Zweibeiner, doch dazwischen, in jenen drei Sekunden, bevor sein Gedächtnis zurück auf Anfang stellt, da sieht er so klar, so konturiert, so allumfassend naiv, wie ein Neugeborenes, das mit schärfsten Sinnen und vollem Bewusstsein zur Welt kommt.

In diesen drei Sekunden lebt er. In ihrem Vergessen stirbt er. Alle drei Sekunden erschafft er sich neu, erlebt er ein neues Leben; alle drei Sekunden ist er der allererste Mensch, ist er Adam, ist er Columbus, ist er Galilei – und alle zugleich und immer wieder. Was für mich ein Gähnen ist, bedeutet für ihn eine Lebenszeit, ein ganzheitliches Dasein: Drei Sekunden sind seine Ewigkeit. Und er lebt diese Ewigkeit, lebt sie wieder und wieder und wieder von neuem, er lebt die radikale, zwanghafte Unwiederholbarkeit der Dinge, weil sein Gedächtnis keine Routine zulässt. Wie es sich wohl anfühlen muss, aus nichts außer ersten Malen zu bestehen? Er wird es nie erfahren.