Dienstag, 12. Dezember 2017

Masse und Meter

Regeln, die für das Individuum lächerlich erscheinen, finden zumeist in der Masse ihre Berechtigung. Das paradoxe daran ist, je größer die Masse, desto gröber, haltloser wird mitunter die Regelauslegung. Da, wo die Einhaltung der Regel ihren eigentlichen Sinn erfährt, da ist sie schon dem regellosen Diktum der Masse ausgeliefert, schnell zertrampelt von der animalisch-einheitlichen Herdenbewegung, in der das Individuum schnell verschwimmt und schließlich untergeht.

Heute ist Samstag, das Fest der Liebe naht, und das Museum platzt aus seinen Nähten. Es ist zu viel, denke ich, hier, im ersten Stock der Touristensammlung, einfach zu viel, von allem, von überall, zu viele Beine, zu viele Schultern, zu viele Ellbogen; nur Respekt, davon ist wie immer zu wenig in der Herde. Es ist ein seltsames Spiel der Verhältnisse: Ich beobachte, wie sich erwachsene Menschen völlig gedankenlos und ohne jeden Respektabstand gegen jahrhundertealte, unwiederholbare Kunstschätze lehnen, während sie an anderer Stelle ehrfurchtsvoll stehen bleiben, um einem Pärchen nicht in den Schnapsschuss zu laufen.

Ich stehe heute auf der Marathonposition im ersten Stock, wobei stehen hier keine Option ist, der raue Ton des Oberaufsehers verlangt nach Bewegung, bei diesen Massen gibt es keinen, darf es keinen Stillstand geben, ich muss in fünf Räumen zugleich sein, und dazwischen im Marmorsaal, der Besucher- und Himmelsrichtungen trennt. Ich hetze von Nordsüd nach Nordwest und wieder retour, vier Stunden bis zur ersten Pause, und mit jedem Schritt, mit jedem Meter wächst die Masse um mich herum, wie eine Armee stürmt sie das Schloss in überlegener Anzahl, schickt sogar ihre Kinder in das Getümmel, und nicht selten vorauseilend, rennend, ohne jede Furcht.

Die Jackenregel, obsolet, das Rucksackverbot, aufgehoben; die Garderobe funkt wiederholt ihre Überforderung durch, verlangt nach Unterstützung, sofortiger. Es ist Mittag, der erste Bildalarm tönt mir in den Ohren, Van Goghs Landschaft bei Auvers wurde angegriffen (es hat einen Grund, warum sie hinter Glas konserviert), ein schneller, prüfender Blick in Nordwest 2, ein Funkspruch an die Zentrale, mit dem Bild sei alles in Ordnung. Und wieder retour. Ich zähle meine Schritte nicht mehr, komme nicht dazu, Meter für Meter muss ich Wege durch die Masse finden und das Gröbste verhindern, den Mund in halboffener Krampfstarre ob der ständigen Gefahr, die in allen Räumen lauert, den vielen blinden Umdrehungen gegen den reitenden Napoleon, den ausgestreckten Händen zu Messerschmidts Büsten; Statuen und Goldrahmen befassend, als wären sie robuste Spielzeuge, oder zutrauliche Tierchen, die nur darauf warten, gestreichelt zu werden.

Es ist zu viel, denke ich wieder, zum ersten Mal, seit ich in diesem Objekt arbeite, zu viel Andrang, zu viel Masse, zu viel Handykameras für zu wenig Platz. Natürlich gab und gibt es immer wieder Herdenschübe, hier, wo das Gold zuhause ist, doch nie in dieser Dichte, in dieser umsatzstarken Enge, in der kein Platz für Platzangst ist. Dieser Samstag, diese Masse, das ist neu. Ein Rekordjahr, bestätigt mir die Direktion (in der Zeitung, kurz darauf), ein neuer Besucherrekord und veritabler Jubelumsatz, der sanft angehobene Eintrittspreis und die längeren Öffnungszeiten dabei sicher nicht nachteilig. Und auch schon neue, verkaufsfördernde Ideenkonzepte für das nächste Jahr, ein veritables Rezept, um die Masse noch weiter und noch gehaltvoller aufgehen zu lassen.

Manchmal, zwischen den Metern, da frage ich mich, wie viel Platz es eigentlich braucht, um ein Kunstwerk für sich zu erfahren. Ob es dafür nicht einer Regel bedarf, selbst wenn sie für den Einzelnen lächerlich erscheint. Natürlich, ich weiß, es sind die falschen Fragen. „Die einzig wichtige Frage ist“, sagt ein Kollege in der Mittagspause trocken, „wie bekommen wir noch mehr Menschen ins Museum?“