Donnerstag, 20. Dezember 2018
Donnerstag, 13. Dezember 2018
Freitag, 30. November 2018
Gefühl der Heimat
Es gibt eine beliebte Buchhandlungskette in der Stadt, es ist unmöglich, sie nicht zu kennen. Unmöglich, das Logo nicht schon einmal gesehen zu haben, das mit der grünen Dame, mit der namensgebenden, windigen, grünen Muse, die
den kobaltblauen Schriftzug neben ihr anlächelt oder verbläst, je nachdem.
Heute stehen die Zeichen auf Sturm. Es ist der 28. November 2018
und wieder trete ich in ihre Filiale am Rand der Flaniermeile, presse mich durch eine unzählbare Masse an Menschen, als wäre ich immer noch im Museum, gefangen im monetschen Ausnahmezustand. Und irgendwo, da stimmt es auch, für mich ist es ein Museum: Jedes
Buch ein Exponat, jede Bindung ein Kunststück, jeder U4-Text ein
Kuratorenwitz. Es ist ein Museum ohne Aufsicht, eine Ausstellung zum
Anfassen, bunt, global und wechselhaft, hunderte, tausende Künstler
und Werke, in die man sich hineinlesen muss. In dieses Museum verschlägt es
mich, tagein, tagaus, hier stöbere, suche, finde ich die Bücher, die
ich später in einem Laden kaufe, von dem niemand das Logo kennt. Weil er keines
hat, nie eines haben wird.
In der Kettenfiliale dagegen ist alles Logo. Auf Regalen, am
Sackerl, auf Lesezeichen, Übersichtsplänen, überall prangt die kobaltblaue
Schrift, der Name, die Marke.
Sie ist es, die die Massen abholt, die Räume und Konten füllt. Menschen mögen
Marken, immer schon. Ein frittengelber Doppelbogen, eine zweischwänzige Kaffeenixe,
eine grüne Büchermuse – die Marke schenkt Vertrauen und Zuversicht. Immer schon ist sie bekannt, nie
überrascht sie; und was nicht überrascht, kann nicht enttäuschen. Sie ist das
Wissen: Was ich hier bekomme, das ist vielleicht lieblos, ist vielleicht
überteuert, ist vielleicht nicht besonders – aber ich bekomme es. Die Marke ist
der Schutzpatron der Beständigkeit. Sie ist der Tod der Überraschung, das Ende
des Empfindens. Sie ist Wohlstand. Ein Privileg.
Die Filiale auf der Flaniermeile hat drei Stockwerke. Im
ersten Stock ist eine Toilette, auf der Toilettentür ein Schild, auf dem Schild
eine Information. Sie lautet: „Aus Gründen der Sicherheit und Hygiene bitte
[sic] wir sie [sic] keine Ware in den Toilettenbereich mitzunehmen. Vielen
Dank für Ihr Verständnis!“ – Nein, ich erfinde, ich träume das nicht, ich will schwören, dieses Schild existiert, und es
ist wohl tatsächlich die beste, die klarste Erklärung für ein diffuses Gefühl, das sich immer nur schüchtern und unvollständig erklären lässt: Das Gefühl meiner Heimat. Die Marke hat mir die Überraschung genommen,
dieses Schild nimmt mir die Mündigkeit. Ich lebe in einem reichen, demokratischen Staat, in dem das
Bedürfnis herrscht, seine Bürger schriftlich darauf hinweisen zu
müssen, keine ungekauften Bücher zum Scheißen auf eine Buchhandlungstoilette
mitzunehmen. Aus Gründen der Sicherheit und Hygiene.
Heute ist der 28. November 2018, nur zwei Länder weiter
tritt gerade das Kriegsrecht in Kraft, und in meiner nächsten Umgebung herrschen akute Sicherheitsbedenken, dass der Volksverstand nicht ohne Hinweis fähig ist, seine
Notdurft in der Halböffentlichkeit ohne ungekaufte Neuware zu verrichten.
Soviel Freiheit, soviel Frieden und Wohlstand zu besitzen, um einen solchen Hinweis überhaupt formulieren zu können (der, im schlimmsten Fall, seine Berechtigung hat) – das, würde ich
sagen, ist die Kurzfassung dessen, was meine Heimat ausmacht
oder kleinmacht, je nachdem. Ein Privileg.
Montag, 26. November 2018
Position und Sprache
Ein Grund, warum ich meinen schlechten Job so mag, sind
meine Kollegen. Ich arbeite neben wundersamen, unwahrscheinlichen Menschen mit diversesten Lebensläufen und
Geburtsflaggen, ich diene weniger den vereinzelten Museen, als den Vereinten
Nationen: Österreich, Ungarn, Italien, Deutschland, Schweiz, Schweden, Rumänien,
Serbien, Kosovo, Türkei, Tunesien, Syrien, Iran, Ägypten, Kanada – ich kenne
keinen Beruf, in dem mehr Internationalität herrscht als in der
Museumsaufsicht.
Ein paar meiner Kollegen sind geflüchtet, viele studiert,
niemand verbohrt. Die meisten haben Träume, oder zumindest Ziele, andere hatten
sie, leben jetzt das Scheitern, ich bewundere sie alle. Viele sind jung, viele
sind Teilzeit, manche über Fünfzig, alle unterbezahlt. Es ist die eine, die große
Klammer, die uns alle eint, die Ironie der Gerechtigkeit in der Geringschätzung:
egal, wie alt, egal, welches Geschlecht, egal, woher man kommt, egal, wie lange
man die Stelle hält – wir alle verdienen gleich wenig. Nirgendwo herrscht mehr
Gleichberechtigung als in einer Berufsposition, die nichts verspricht.
Hier, in den fensterlosen Ausstellungsräumen, hier gibt es
keine geschlechtsabhängigen Gehaltsscheren, gibt es weder Über- noch
Unterqualifikation, weder Bevorzugung noch Ausschließung. Jede und jeder ist herzlich
willkommen, für einen Hungerlohn Position zu beziehen und sich die Kniescheiben
schleichend zu zermürben; solange man nur annähernd die Sprache
beherrscht. Es ist wirklich die einzige Voraussetzung für den Dienstanzug: Sprechen Sie Deutsch. Und jedes Mal, bei
jedem Dienst, freue ich mich über die unikalen Akzente im Funkverkehr, die
durchklingenden Herkünfte, die in mein Ohr rauschen, und ich kann wieder nicht
fassen, wie man sich diese abgrundtief alogische deutsche Sprache innerhalb
kürzester Zeit aneignen kann, wie man Deutsch überhaupt als Fremdsprache lernen
kann oder möchte, und zu welch einmaligen Versprechern die Unbedarftheit fähig ist
und wie überwältigend poetisch die winzigen grammatikalischen Fehlpässe meiner
ausländischen Kollegen durch mein Gehör klingen und mir den Tag retten. Ein
Haufen Dichter, und keiner von ihnen weiß es.
Es ist schon wieder ein Mittwoch, ich stehe wieder zwischen Monets
Millionenimpressionen und unterdrücke meine konstante Müdigkeit, als plötzlich
der Kollege aus Raum 1+2 in meine Richtung hetzt. Er wirkt ausgelöst, in
großer Eile, verlässt seine Position, um mich einzuweihen, ich rechne mit dem
Schlimmsten. Ein Notfall, ein Bildschaden, eine Herzattacke. Der Kollege bleibt
abrupt stehen, nickt mir zu und sagt: „Du bist doch Österreicher, oder? Was ist
der Unterschied zwischen rechnen, berechnen und verrechnen?“ – Ich bin eine
Sekunde verwirrt, vielleicht zwei, dann erst begreife ich und versuche, es ihm zu
erklären; es ist nicht leicht, es ist wirklich nie leicht, die deutsche Sprache
einfach zu erklären, sie simpel und
kurz zu halten. Ich suche Beispiele und Anschaulichkeiten, stottere, gestikuliere,
der Kollege scheint dennoch zufrieden, geht zurück auf Position. Und erst Stunden später erkenne ich, dass die
Antwort auf seine Frage im Grunde kinderleicht und völlig klar ist: rechnen
heißt mit Zahlen spielen, berechnen heißt mit Resultaten spielen, und
verrechnen heißt scheitern, also Leben spielen.
Mittwoch, 7. November 2018
Monet verbindet
Ich lausche. Beobachte und lausche, schärfe meine Sinne,
während ich neben der Gruppe stehe und der unendlich angenehmen, angelernt
klaren Stimme der Kunstvermittlerin folge, die den Massen Monet erklärt. Seit
einigen Wochen schon stehe ich wieder in einem neuen Objekt, dem wertvollsten
Museum der Stadt, und hier, jetzt, heute, setzt Monet die Menschen in den
Fluss, Menschen über Menschen über Menschen, die seinen fließenden Farben
folgen. Nur für ihn, nur für den extravaganten Impressionisten öffnet das Haus schon
eine Stunde früher, lässt mich eine Stunde länger mitfließen und ausfließen.
Ich will ihm böse sein, doch es geht nicht, weil ich seiner Geschichte lausche,
weil sie zu gut ist; Monet mag man eben.
Und tatsächlich, alle mögen ihn, besonders die späten
Semester. Es ist ein Mittwoch, es ist, als würden alle alten Menschen dieser
Stadt einheitlich in die Ausstellung pilgern, durch die fließenden Räume voller
Seerosen, Winterlandschaften und hängenden Gärten. Als hätten sich alle Altersheime
gleichzeitig entleert, ein gemeinsamer Ausgang, vielleicht einer der letzten,
jedes Husten, jeder ihrer Schritte macht mir Sorge. Und immer wieder läutet
ihnen das Telefon, das smarte, das jeder von ihnen besitzt, aber niemand
bedienen kann, und immer wieder ist ihr Klingelton ein Albtraum, und nie finden
sie das Gerät vor dem fünften Läuten, und nie, nie wissen sie sofort, wie man
es abstellt, leiser macht, ausschaltet – warum schaltet ein Pensionist sein
Telefon im Museum nicht aus? Und wer ist das nur, der ihn ständig anruft? Die verschollene Enkelin? Der Hausarzt?
Mit verstörender Verlässlichkeit läuten die Telefone der
alten Massen, nicht nur heute, seit Wochen schon, während mir die Beine schwer
werden, die Sohlen wieder Feuer fangen, und nicht einmal der samtweiche,
monetblaue Teppichboden etwas hilft. Doch ich lausche. Ich lausche weiter und sehe
den so unheimlich beliebten Franzosen in neuem Licht. Und ich erfahre, dass
Schönheit nicht absolut ist, dass selbst Monet nicht immer schon schön war und
sein erster Erfolg erst spät kam, sehr spät, erst mit Fünfzig. Seine erste Einzelausstellung
soll die Leute gar so verstört haben, dass ein Besucher auf die Straße lief und
einen Passanten in den Arm biss. „Warum hast du einen Menschen in den Arm
gebissen?“, hätte man ihn gefragt. „Wegen Monet“, hätte er geantwortet.
Hundert Jahre später gilt dieselbe Kunst, die bis zum
Menschenbiss verstörte, als eine der ästhetischsten, zartesten Farbanordnungen
der Kunstgeschichte. Hundert Ölwerke hängen heute in der Ausstellung, jedes
einzelne in Millionenhöhe versichert. Und er, der seine eigenen Farben mit dem
Alter nicht mehr recht sehen konnte, er verbindet die einstige Ablehnung mit
der heutigen Anerkennung, die Vergangenheit mit der Gegenwart, das Fließende mit dem Konservierten, die Alten mit
den Jungen. Denn da, plötzlich, inmitten all der gebrechlichen Kunstveteranen,
schlüpft ein Kind aus den hustenden Massen, und ich sehe, beobachte, wie es an der
Kunstvermittlerin vorbeischlendert, wie ein verlorenes Wesen in der falschen
Epoche, ein Kind mit Interesse, ein Kind mit Stil, es trägt einen schwarzen
Pullover, und darauf in weißen Lettern die klare Botschaft: NOW IS THE NEW
LATER.
Das ist sie, denke ich, die Wahrheit dieses Mittwochs, das
ist die Zustimmung, die ich geben kann, will, werde. Jetzt muss man in diese
Ausstellung gehen, jetzt muss man schreiben, jetzt muss man Monet mögen – und
wenn nicht für seine Seerosen und Spaghettigärten, dann doch zumindest für die
Tatsache, dass er bis Fünfzig geschmäht wurde und seine Zeitgenossen so aufwühlte,
dass sie sich ineinander verbissen. Monet verbindet.
Donnerstag, 1. November 2018
Dienstag, 16. Oktober 2018
Die vierte Essenz
Sein Leben bestehe im Grunde aus vier Dingen, soll Borges
einmal gesagt haben. Lesen, Denken, Schreiben und Genießen. Letzteres, fügte er
an, sei ihm das Wichtigste gewesen. Warum aber fällt es oft so schwer,
bedingungslos zu genießen, warum wirkt dieses Empfinden wie die Ausnahme und
nicht die Regel? Anders gefragt: Warum fällt es so schwer, in dem Moment zu
sein, in dem Moment sein zu wollen?
Ich denke, es ist so: Ich kann den Moment deshalb nicht
genießen, weil ich eigentlich nicht hier sein möchte. Genuss erfordert
vollkommene Akzeptanz der Gegenwart, die aus Zeit und Raum besteht. Und am Raum
scheitert es; wenn ich die vierte, fünfte Stunde im Museum stehe, wehen meine
Gedanken schon dem Ende der Schicht entgegen, sehnen sich nach dem Andernorts.
Warum? Weil ich Hunger habe, weil die Sohlen brennen, weil ich Lesen,
Schreiben, Schlafen möchte. Dinge, die ich in einer Monet-Retrospektive einfach
nicht tun kann. Dinge, die der Dienstanzug nicht zulässt.
Dabei wäre jede Arbeit, jeder Museumsdienst so viel
angenehmer, wenn ich ihn einfach bedingungslos annehmen würde, wenn ich die
Tätigkeit ohne Sehnsucht genießen könnte. Ich kann eine Dienststunde nicht
genießen, das heißt nichts anderes als: Ich möchte nicht hier sein. Ich möchte
an meinem Esstisch, an meinem Schreibtisch sitzen, möchte mich im
Lichtspielsaal verstecken, die Luft am Flussufer atmen, Kaffee aufsetzen,
vielleicht verreisen. Weil es nicht geht, werde ich ungeduldig, frustriert,
apathisch, im schlimmsten Fall verbittert. Jedes schlechte Gefühl ist ein
Produkt des unglücklichen Zwanges, in einer Situation sein zu müssen, aus der
man nicht raus kommt. Oder rauskommen könnte, aber sich vor den Konsequenzen
scheut. Ein bemüht oberflächliches Gespräch mit einem Kollegen, der mir nichts
sagt: Ich wünschte, ich wäre nicht hier. Jede schmerzhafte, peinliche
Kindheitserinnerung kennt diesen Gedanken, den ersten Gedanken im Moment der
Entblößung: Ich wünsche mich an einen anderen Ort. Ich wünsche mich überall
hin, nur nicht hier, nur nicht in diesen Moment, von dem ich weiß, dass er sich
einprägen wird. Das Gegenteil von
Genuss: Scham.
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