Donnerstag, 8. Dezember 2016

Der Hochzeitssänger

Ich begegnete ihm bereits öfter, das letzte Mal bei einer russischen Hochzeit im Palais des Fürsten. Man erkennt ihn sofort an seinen Augen, die all das vorwegnehmen, was nie aus ihm geworden ist. Er präsentiert sich gut gekleidet, aber nicht sehr, er trägt glänzende Schuhe, aber keine hochwertigen. Er lächelt viel und breit, doch er hat wenig zu lachen. Er ist selten sehr alt, aber niemals noch jung.

Ich stelle mir vor, er hatte einmal einen Traum; keinen ideologischen, weltumspannenden, bedeutsamen Traum, aber immerhin einen persönlichen, festen, an den er wahrhaftig und hoffnungsvoll glaubte, noch ehe er Wörter wie „Sozialversicherung“ oder „Zynismus“ kannte. Er wollte Sänger und Musiker werden, wie andere Fußballer oder Autor werden möchten. Er hatte Talent, nur eben geringes, er zeigte Disziplin, nur eben zu selten. Und doch gab er den klaren Vorzeichen niemals nach, ließ sich von der übermächtigen Konkurrenz nicht beirren und hielt den eiskalten Traum so lange in der Hand, bis er hinweg schmolz und ihm zwischen den Fingern zerrann und einen inneren, winzig-abstrakten Restbestand freigab, das traurige Fossil des Traumes, von dem selbst Experten nur mutmaßen können, was er einmal darstellte.

Er hätte den Traum rechtzeitig loslassen können und sich an etwas anderes, wärmeres klammern, er hätte ganz neu anfangen können, hätte etwas lernen können, das allgemein akzeptiert und annehmlich bezahlt wird, er hätte leise aufsteigen und langweilig leben können, auf Schiene fahren, statt am Bahnhof zu schlafen; er tat es nicht. Er lebt den astronomisch kleinen, radikal abgeschwächten, letzten Rest an Traum, der sich ihm anbietet, er hält sich fest an dem unansehnlichen Wurmfortsatz des einstigen Wunschorgans, er steht auf der heute errichteten und morgen schon abgebauten Bühne, die wie sein Traum auf lächerliche Größe zusammengeschrumpft ist.

Er geht beständig gerade aus, aber er geht rückwärts; er ist das fleischgewordene Symbol des Scheiterns, der heimliche Schutzpatron all jener, die es nicht geschafft haben, aber sich dank ihm ein kleines bisschen besser und sicherer und weniger allein fühlen dürfen. Er gibt Hoffnung, ohne es jemals zu erfahren. Er wird geliebt, aber nur für ein paar Stunden, und manchmal, für eine Zugabe. Er ist die Lebensgeschichte, die nie erzählt wird, das Monument, das nie errichtet wurde, der Minnesänger, der sich im Jahrhundert vertan hat. Er ist viele und er existiert – und auch in mir steckt bereits eine Ahnung seiner glänzenden Gestalt.

Ich fühle mit ihm, in jedem seiner lächelnd vorgetragenen, fremden Evergreens.