Ich begegnete ihm bereits öfter, das letzte Mal bei einer
russischen Hochzeit im Palais des Fürsten. Man erkennt ihn sofort an seinen
Augen, die all das vorwegnehmen, was nie aus ihm geworden ist. Er präsentiert
sich gut gekleidet, aber nicht sehr, er trägt glänzende Schuhe, aber keine
hochwertigen. Er lächelt viel und breit, doch er hat wenig zu lachen. Er ist
selten sehr alt, aber niemals noch jung.
Ich fühle mit ihm, in jedem seiner lächelnd
vorgetragenen, fremden Evergreens.
Ich stelle mir vor, er hatte einmal
einen Traum; keinen ideologischen, weltumspannenden, bedeutsamen Traum, aber
immerhin einen persönlichen, festen, an den er wahrhaftig und hoffnungsvoll
glaubte, noch ehe er Wörter wie „Sozialversicherung“ oder „Zynismus“ kannte. Er
wollte Sänger und Musiker werden, wie andere Fußballer oder Autor werden
möchten. Er hatte Talent, nur eben geringes, er zeigte Disziplin, nur eben zu
selten. Und doch gab er den klaren Vorzeichen niemals nach, ließ sich von der
übermächtigen Konkurrenz nicht beirren und hielt den eiskalten Traum so lange
in der Hand, bis er hinweg schmolz und ihm zwischen den Fingern zerrann und
einen inneren, winzig-abstrakten Restbestand freigab, das traurige Fossil des
Traumes, von dem selbst Experten nur mutmaßen können, was er einmal darstellte.
Er hätte den Traum rechtzeitig loslassen können und sich an etwas anderes,
wärmeres klammern, er hätte ganz neu anfangen können, hätte etwas lernen
können, das allgemein akzeptiert und annehmlich bezahlt wird, er hätte leise
aufsteigen und langweilig leben können, auf Schiene fahren, statt am Bahnhof zu
schlafen; er tat es nicht. Er lebt den astronomisch kleinen, radikal
abgeschwächten, letzten Rest an Traum, der sich ihm anbietet, er hält sich fest
an dem unansehnlichen Wurmfortsatz des einstigen Wunschorgans, er steht auf der
heute errichteten und morgen schon abgebauten Bühne, die wie sein Traum auf
lächerliche Größe zusammengeschrumpft ist.
Er geht beständig gerade aus, aber
er geht rückwärts; er ist das fleischgewordene Symbol des Scheiterns, der
heimliche Schutzpatron all jener, die es nicht geschafft haben, aber sich dank
ihm ein kleines bisschen besser und sicherer und weniger allein fühlen dürfen.
Er gibt Hoffnung, ohne es jemals zu erfahren. Er wird geliebt, aber nur für ein
paar Stunden, und manchmal, für eine Zugabe. Er ist die Lebensgeschichte, die
nie erzählt wird, das Monument, das nie errichtet wurde, der Minnesänger, der
sich im Jahrhundert vertan hat. Er ist viele und er existiert – und auch in mir
steckt bereits eine Ahnung seiner glänzenden Gestalt.