Sonntag, 4. Dezember 2016

Über Ästhetik

Ein Märchen: Es lebte ein Künstler, der wollte nicht sterben. Er wollte ein Kunstwerk schaffen, das ihn unsterblich machte, das die Zeit überdauerte, weil es alle Völker entzücken und alle Generationen ansprechen würde. Er dachte: Was mögen alle Menschen? Liebe. Er dachte: Was mögen die Menschen noch? Gold. Er kombinierte das eine mit dem anderen und schuf damit das schönste Bild der Welt.

An einem Sonntag stehe ich neben dem Bild und darf es über die nächsten acht Stunden bewachen. Ich bin das erste Mal auf der goldenen Position im ersten Stock und spüre schon von fern das stampfende Dröhnen der Touristenherde. Alle kommen sie ins Museum, um dieses eine Bild zu sehen, die Schönste der Schönen, das Bild der Bilder, das selbst nicht so recht zu wissen scheint, warum es so berühmt ist. Fast schon peinlich berührt hängt es da, allein auf einer breiten, schwarzen Wandseite, bedeckt von einer schamvollen Glasschicht, die doch nichts verhüllen kann und jeden Auktionsdollar unfreiwillig preisgibt.

Ich stehe zwischen Bild und Tür, halte die Herde auf Abstand und tue das, was der Arbeitsauftrag verlangt: Verbote aussprechen. Ich bin ein negatives Hinweisschild mit Sprachfunktion, eine interaktive, notwendige Hausordnung, weil ich dem modebewussten Museumsraum in meinem schwarzen Dienstanzug besser stehe als eine hässlich rote Wandtafel. Zumindest ist das die Meinung der Direktorin, was wiederum zu vielen, unnötig hektischen Momenten führt – in allen Ausstellungsräumen herrscht striktes Fotografieverbot, doch nirgendwo wird darauf hingewiesen.

Die Lösung mit den Dienstanzügen ist deshalb bloß eine halb durchdachte, unsere Anzahl eine zu geringe, um die Schnappschussprohibition in allerletzter Konsequenz zu verfolgen. Denn auf allen Seiten und in jeder Herde gibt es sie, die Kamerablitzer und Momentaufnehmer, die ihre mobile Technik hochhalten und draufhalten, weil – ja, weil sie es eben können und nicht besser wissen. Obwohl ich immer noch nicht ganz begreifen kann, weshalb jemand ein Kunstwerk fotografiert, wenn es doch direkt vor ihm steht, und sich ohnehin viel ergiebigere Fotobeute im Netz findet, so kann ich  allein aus Advokatensicht – niemandem den Klick verübeln. Ein Verbot kann nur verletzt werden, wenn es auch bekannt ist.

Nur darin liegt der Fehler. Ich muss ahnungslose Weltenbummler und arbeitende Familienurlauber auf frischer Tat ertappen, ihnen von hier, von dort die Wörter entgegenbrüllen und wie ein Albtraum auf sie zuschreiten. Meistens natürlich ist da nichts dabei, aber dennoch – wer kann mir mit Gewissheit sagen, ob es nicht an dem einen oder anderen kurzfristig nagte? Denn immerhin mache ich sie auf ein Vergehen aufmerksam, von dem sie nicht wissen konnten, weil sie nie gelernt haben, Schilder zu deuten, die nicht da sind. Mit jedem automatisch bestürzten Zwischenruf und jeder ausgestreckten Hand vor die Kamera gebe ich ihnen das Gefühl, eine Tat begangen zu haben. Es ist ein unangenehmes, unnötiges Gefühl, eines, das du im Urlaub nicht erleben möchtest, das zur irritierten Ahnung des Nichtwillkommenseins führt, das vielleicht den gesamten Museumsbesuch in ein schlechtes Erinnerungslicht setzt, das von sensiblen Seelen womöglich sogar einen ganzen halben Tag abnagt. Und so geht es mir bei jeder Schicht in den Stockwerken der kulturellen Goldquelle, weil die Direktorin keine verunreinigenden Schilder in ihrer sauberen Quelle erduldet.

Ich mache ganze Heerscharen von Touristen, Urlaubern, Studierenden und Familienmenschen zu überrumpelten Halbtagstätern, einzig und allein aufgrund des ästhetischen Empfindens einer Einzelperson.